„Baum fällt“ braucht in Thomas Köcks Theatertext „solastalgia“ eigentlich niemand mehr zu rufen. Längst liegt der Wald, um den es in dem 2022 uraufgeführten Stück des mehrfach ausgezeichneten Autors geht, im Sterben – auch wenn der Großteil der Bäume noch steht. Während die einen dem Borkenkäfer die Schuld in die nicht vorhandenen Schuhe schieben wollen, wissen die anderen, dass das Problem hausgemacht ist – dass alles mit dem kapitalistisch geprägten Streben nach mehr steht und fällt. „dieses habitat / wird uns nicht mehr brauchen / wir sind von dieser landschaft / völlig unerwünscht“, urteilt der namenlose Ich-Erzähler im Stück. Kurz: „we are fucked / wie nie zuvor“.

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Der Wald ist auch jener Ort, an dem sich im Stück der titelgebende Gefühlszustand manifestiert. Der Begriff der „Solastalgie“, erdacht und geprägt von dem Naturphilosophen Glenn Albrecht, beschreibt ein belastendes Gefühl des Verlusts, das entsteht, wenn ein geliebter, trostspendender Ort im Verschwinden begriffen ist oder zerstört wird. „Eigentlich hatten wir vor, uns dem Thema der Solastalgie über die Minen in Ost- und Westdeutschland anzunähern“, erzählt der Autor im Interview. „Es war vor allem die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes, die meinte, dass man den Text im Wald verorten müsste. Ich habe begonnen, darüber nachzudenken, mich aber trotzdem lange gefragt, wie ich das angehen soll, weil mir Themenstücke nicht wirklich liegen. Ich brauche zum Schreiben immer einen persönlichen Zugang – etwas, was mich interessiert.“

Rückgriff auf eigene Erfahrungen

Um genau danach zu suchen, begann Thomas Köck, der in einer kleinen Gemeinde nahe der oberösterreichischen Stadt Steyr aufgewachsen ist, sich mit den Orten seiner Kindheit und Jugend zu beschäftigen. „Ich komme aus einer Familie, in der die Bewirtschaftung des Waldes eine wichtige Rolle spielt“, erzählt er. Spannend fand er unter anderem, dass der Wald etwas ist, was man nicht für sich selbst, sondern für die Nachkommen pflanzt. „In diesen Prozessen zu denken hatte einen großen Reiz für mich“, so Köck. Über den Rückgriff auf eigene Erfahrungen gelang es ihm, nicht in eine Form von Naturdoku hineinzurutschen, sondern sich das Thema zu eigen zu machen, um es anschließend „soziologisch und autofiktiv wieder auseinanderzureißen“. Am Ende entstand ein Textgeflecht, in dem sich Umweltausbeutung und Selbstausbeutung, die Bewirtschaftung des eigenen Körpers und der Landschaft, miteinander verbinden.

Rohheit und Verknappung

Klingt viel zu groß für einen Theaterabend, vielleicht sogar ein wenig größenwahnsinnig? Häufig sind es scheinbar unüberblickbare Themen, denen sich Köck in seinen Texten widmet. Was manche als Überforderung bezeichnen, nennt Thomas Köck schlichtweg „das Thema ernst nehmen“. Seine größten Würfe (zweimal gewann er den Mülheimer Dramatikpreis) sind immer auch sehr allumfassende Weltentwürfe.

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„Natürlich wären auch all die Themen und Zusammenhänge, die in ‚solastalgia‘ vorkommen, in Summe viel zu groß, würde man sie komplett auserzählen. Durch die fragmentarische Form entsteht jedoch eine Rohheit, und in der Verknappung werden bestimmte Zusammenhänge möglicherweise sogar noch deutlicher sichtbar. Je größer ein Thema ist, desto mehr sieht man sich zudem gezwungen, die eigenen Mittel zu überprüfen und zu überarbeiten. Das finde ich spannend, weil ich es nicht als meine Aufgabe betrachte, ein perfektes Produkt abzuliefern. Wäre das so, würde ich schreiend davonlaufen. Mich interessiert es, dort hinzugehen, wo ich schauen muss, wie ich mit meinen Tools rankomme.“

Je größer ein Thema ist, desto mehr sieht man sich zudem gezwungen, die eigenen Mittel zu überprüfen und zu überarbeiten.

Thomas Köck, Autor

Dadurch müsse er sich Fragen stellen, die ihn persönlich und künstlerisch weiterbringen. Insgesamt sei „solastalgia“ wohl die direkteste und purste Erzählung, die er bis jetzt für das Theater geschrieben hat.

Gut festhalten und viel Spaß

Die Rohheit, von der Thomas Köck spricht, passt einerseits zu jenem Rohstoff, um den es in dem Stück geht, darüber hinaus aber auch zu seinem Verständnis des Theatertexts als Material. „Ich bin mit einem bestimmten Bild von Arbeit und Handwerk aufgewachsen und von früh auf mit Maschinen, Verarbeitung, Lärm und Rohstoffen konfrontiert gewesen. Und selbst verstehe ich mich als ein kontinuierlich produzierender Handwerker“, erzählte der Autor einmal in einem Interview mit der Suhrkamp-Lektorin Nina Peters.

Die Materialität seiner Texte kommentiert er in den Regieanweisungen zu „paradies spielen“, dem zweiten Teil seiner Klimatrilogie, folgendermaßen: „nachspielen wird wie immer / ans herz gelegt / weil es für mehr / als einen abend reicht / und außerdem / erst in der wiederholung / entsteht die / essenz / ansonsten gilt wie immer / gut festhalten / und / viel spaß“.

Mit der Axt dreinschlagen

Am Ende sei es zudem immer die Sprache, die dem Material diktiere, was es zu tun hat. „Diese Sprache wächst allerdings und wuchert, bis sie selbständig wird, sich um das Material herumlegt und selbst in der Lage ist, das Material umzuformen“, so der Autor, der schon seit vielen Jahren in Berlin lebt, im Interview mit Nina Peters.

Wenn man so will, steht und fällt bei Thomas Köck also alles mit der Sprache. Und die hält stets die eine oder andere überraschende Wendung bereit. Wenn man denkt, es sich als Zuschauer*in kurz auf einem bemoosten Stein gemütlich machen zu können, schlägt Thomas Köck – frei nach Elfriede Jelinek – mit der Axt drein.

Hier zu den Spielterminen von solastalgia!