Ballett-Kostüme von Akris: Mit der Kraft des Stoffs
Modedesigner Albert Kriemler und Choreograf John Neumeier haben eine Vision: das Ballett in eine neue Form zu kleiden. Zuletzt bewies das „Beethoven-Projekt II“ im Theater an der Wien, welche Kraft ein Stoff haben kann.
Die schwierigste Frage stellte sich noch vor dem Interview: Was sollte man anziehen? Zum Gespräch mit Albert Kriemler, Schweizer Modedesigner, untrennbar verbunden mit dem Luxuslabel Akris, das unter seiner Ägide zum Synonym für unkomplizierte, ganz selbstverständliche Mode abseits betäubender Trends wurde. Ein Sinnbild für Qualität, Eleganz und Innovation, tatsächlich geschaffen für Frauen, deren Alltag höchst lebensnah ist – vom Business bis zur Repräsentation.
Ehe man an dieser Frage verzweifelt, entscheidet man sich besser für die Intuition und wählt, wonach einem gerade ist. Denn Albert Kriemler erweckt keinesfalls den Eindruck, als beurteile er Menschen nach ihrem Äußeren. Er ist Ende August nach Wien gekommen, um dem Gastspiel des Hamburg Balletts seines Freundes John Neumeier im Theater an der Wien beizuwohnen. Das hat zwei gute Gründe. Erstens den Kunstgenuss Ballett an und für sich, und zweitens die Tatsache, dass er selbst die Kostüme für die Tänzer:innen kreiert hat. Es war dies bereits die fünfte Zusammenarbeit mit dem Starchoreografen. Begonnen hat alles in Wien anlässlich des Neujahrskonzerts 2006, für das John Neumeier die Choreografie gestaltete und der im Oktober 2005 bei Albert Kriemler anrief.
Akris: Kein Zögern, kein Zaudern
„Der Anruf kam ganz spontan und völlig überraschend. John Neumeier hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, die Kostüme für das Neujahrskonzert zu machen. Ich habe ihm geantwortet, dass mich das außerordentlich freue, ich aber nicht wisse, ob ich das überhaupt könne. Denn ich ging davon aus, dass er das Neujahrskonzert 2007 meinte, heute würde ich das nicht mehr, weil ich weiß, wie er arbeitet“, erinnert sich Albert Kriemler mit einem Lächeln. „Ich bin noch am nächsten Tag zu einer Besprechung nach Hamburg gefahren. Die Kleider für die Tänzerinnen konnten wir schließlich in unserem eigenen Atelier nähen, für die Tänzer habe ich einen wunderbaren Herrenschneider in Wien zur Verfügung gestellt bekommen. Er hatte ein unheimliches Wissen, gerade was die Frage der Armfreiheit betraf, die bei Tänzern so wichtig ist. Denn die Konstruktion ist eine völlig andere als bei herkömmlichen Jacken“, erklärt Albert Kriemler und ist mitten im Thema.
Liebe zu Materialie
„Der Auftritt war für mich ein bleibendes Erlebnis. Und das schönste Kompliment war, dass die meisten Tänzerinnen und Tänzer meine Kleider am liebsten mit nach Hause genommen hätten. Sie fragten ‚You don’t need tape?‘ – und ich wusste gar nicht, was sie meinten. Sie haben mir dann erklärt, dass es kaum Kostüme für Tänzer gäbe, die ohne Klebeband auskämen. Meine Kleider müssen aber aus sich heraus so funktionieren, dass sie zum Tanzen geeignet sind. Ich mag auch den Begriff Kostümdesigner nicht, sondern ich entwerfe Kleider zum Tanzen. Das liegt auch an meinen Stoffen. Ich habe nie ein Ballett entworfen ohne unsere Stoffe, das ist bei mir immer eine Bedingung, weil es Teil meiner Handschrift ist“, erklärt er seine Herangehensweise.
Die Liebe zu Materialien wurde ihm in die Wiege gelegt. In einem früheren Interview erzählte Albert Kriemler, dass er Stoffmessen als Kind wie große Feste empfunden habe. „Meine erste Arbeit in der Firma, da war ich noch ein Kind, war im Stofflager. Wenn ein neuer Stoff hereinkommt, muss man die Muster beschriften und mit Nummern versehen. Mein Vater hat gemeinsam mit meiner Großmutter schon in den 1940er-Jahren ein Stoffarchiv angelegt, auf das ich noch heute zurückgreifen kann. Auch das Archivierungssystem ist das gleiche geblieben. An der Nummer kann ich die Stoffqualität und die Farbe ersehen, sodass ich jeden Stoff innerhalb einer Stunde finden kann.“ Für seine Arbeit eine unschätzbare Hilfe – sowohl in der Mode als auch in der Erschaffung von Ballettkostümen, von denen es noch viele geben sollte.
Die Krönung – das Bolschoi-Theater
Denn nach dem Neujahrskonzert schlug John Neumeier eine gesamte Ballettproduktion vor, die zwei Jahre später mit „Josephs Legende / Verklungene Feste“ auch realisiert werden konnte. 2016 folgte „Turangalîla“ von Olivier Messiaen, und 2017 fragte John Neumeier bei Albert Kriemler für das Ballett „Anna Karenina“ an.
„Er wollte, dass ich neun Kostüme für die von Primaballerina Anna Laudere getanzte Titelfigur entwerfe. Ich habe sofort zugesagt.“ Diese Flexibilität überrascht dann doch bei einem Mann, dessen Zeitplan bei acht Kollektionen im Jahr wenig Freiräume zulässt. „Wenn man sich aus Zeitgründen immer allem verschließt, wird es irgendwann zur Regel. Also sage ich dann meist, wir machen es trotzdem. Es ist ja nicht nur mehr Arbeit, sondern für das Team und mich auch eine Erfahrung und ein neues inspirierendes Projekt“, erklärt er.
„Anna Karenina“ erwies sich als besonderer Glücksmoment, ging doch die Produktion als Gastspiel auch ans Bolschoi-Theater in Moskau. „Eine Premiere am Bolschoi interessiert die gesamte Gesellschaft und holt sie auch ab. Es war faszinierend, zu erfahren, wie die Ballettkultur in diesem Land integriert ist.“ Die fünfte und bis dato letzte Zusammenarbeit mit John Neumeier war dann schon das eingangs erwähnte „Beethoven-Projekt II“. Insgesamt 49 Kostüme – das Farbspektrum klar definiert: Gelb in sieben Tönen, Jadegrün, Rot, Blau, Weiß und Schwarz. Inspiriert von John Neumeiers Musikauswahl und in modernstem Akris-Design. Könnte er sich vorstellen, auch für Oper oder Sprechtheater zu entwerfen? „Es gab diesbezüglich schon Anfragen, aber es hat einfach nie gepasst. Natürlich wäre es interessant, weil es eine ganz andere Aufgabe ist.“ Allerdings gebe es eben auch Momente, wo man aus anderen Gründen Nein sagen müsse.
Denim für die Expräsidenten-Gattin
Zu Michelle Obama hat Albert Kriemler indes Ja gesagt. Als diese 2018 ihre Autobiografie „Becoming“ präsentierte und damit weltweit auf eine gigantische Lesereise ging – festgehalten in einer Netflix-Dokumentation –, trug sie schon zum Auftakt Akris. Der Werbe- und Imagewert für das Schweizer Modehaus lässt sich wohl kaum errechnen. „Ich hatte nie die Chance, sie während der Präsidentschaft ihres Mannes einzukleiden, weil sie angehalten war, amerikanische Designer zu tragen. Das habe ich immer bedauert, weil sie so eine neue Form von Präsenz formuliert hat“, erklärt Albert Kriemler.
Als sich nun die Möglichkeit eröffnete, gab er ihr seinen allermodernsten Anzug, einen Denim-Suit aus der Wiener-Werkstätten-Kollektion. Und erfüllte damit das, was er als Grundaufgabe seiner Kleider bezeichnet: „Dass die Frau ungehindert und in einer männerdominierten Gesellschaft sicher auftreten kann.“ Michelle Obama dankte es Albert Kriemler, indem sie zwei weitere Male Akris trug.
Aktueller Spielplan des Theater an der Wien
Weiterlesen: Riss in der heilen Welt: Orphée et Eurydice in der Kammeroper