Ganz oben in der Wiener Staatsoper gibt es zwei Turmzimmer. In dem einen fliegen seit neuestem Bienen ein und aus – zwei Stöcke produzieren dort den Opern­honig, den man demnächst auch kaufen kann. Das andere Zimmer steht leer. 

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Dieses Turmzimmer ist der Appendix der Carlos-Kleiber-Probebühne im vierten Stock. Beim Opernball gehört diese Probebühne nur den Künstlern, und wir haben dort gerade Vera-Lotte Boecker fotografiert. 

Irgendwer hat in das Turmzimmer zwei Sessel hineingestellt. Und durch die Holzlamellen in den Wänden kann man auf Wien runter­schauen. 

Vera-Lotte Boecker streicht sich die Haare aus dem Gesicht: „Ich habe das Gefühl, das ist meine Stadt – das hatte ich von Anfang an. Ich hoffe, dass ich in fünf Jahren immer noch in Wien lebe und mir noch mehr selber aussuchen kann, was ich singe. Das wäre mein Wunsch.“

Erst seit einem Jahr ist sie im Ensemble der Wiener Staatsoper und hat sich zum Liebling des Publikums und der Kritiker:innen gesungen. Ihr erster Aufschlag war die Titelrolle in der Henze-Oper „Das ­verratene Meer“ an der Seite von Bo Skovhus. Dann folgte die Micaëla in Calixto Bieitos „Carmen“. Beide Stücke sind wieder im Herbst zu sehen, ebenso „L’incoronazione di Poppea“, „Die Fledermaus“, „La Bohème“ und „Rigoletto“. 

In Wien werden Karrieren gemacht oder Karrieren begraben.

Vera-Lotte Boecker

Tosend – anders kann man es nicht beschreiben – war der Applaus bei Hans Werner Henze und dann bei Bizets „Carmen“.

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„Ich habe lange nachgedacht, wie mutig ich sein soll. In der Branche sagt man: In Wien werden Karrieren gemacht oder Karrieren begraben.“ Gut, dass Vera-Lotte Boecker mutig war, sich getraut hat.

Vera-Lotte Boecker hat überhaupt viel gewagt in ihrem Leben. Sie selbst würde das vermutlich anders bewerten, wenn man sie fragen würde, aber das gehört zu ihrer Persönlichkeitsstruktur. Sie stellt sich nicht gerne nach vorn, will Dinge nicht über­bewerten, versucht, sie nüchtern zu analysieren.

Boecker kommt aus Brühl, das liegt zwischen Köln und Bonn. Wer künstlerisch was werden möchte, sollte von dort weg.

Vera-Lotte Boecker: „Ich wusste schon als Kind, dass ich das Singen liebe, aber erst als ich dann Anfang zwanzig zum Studium nach Berlin gegangen bin, ist das brutal durchgebrochen.“

Nicht Musik oder Gesang studiert sie, sondern analytische Philosophie und Literatur. Freunde schenken ihr zum Geburtstag Karten für „Rigoletto“. „Es war die erste Verdi-­Oper, die ich gehört habe, und ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. So schön war es, so berührend. Ich war völlig erschlagen und hinüber von der Geschichte und von der Musik. Von da an bin ich dann immer öfter in die Oper gegangen und immer weniger auf die Universität. Irgendwann habe ich all meinen Mut zusammengenommen und mich zur Aufnahmeprüfung angemeldet.“

Dafür braucht man richtig Wumms
„L’incoronazione di Poppea“. Vera-Lotte Boecker als Virtù/Drusilla. Regie: Jan Lauwers.

Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Anruf bei Quasthoff

Vera-Lotte Boecker hat keine Beziehungen, keine Kontakte, aber sie hat den Mut derer, die wissen, dass sie nur eine Chance haben: den Weg nach vorn. Also greift sie zum Telefon und lässt sich vom Pförtner der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin mit Thomas Quasthoff verbinden. Der hebt tatsächlich ab und lässt Boecker am nächsten Tag vorsingen: „Ich hatte eine Naturstimme, und es hat einfach funktioniert – er hat mich genommen. Aber ich hatte keine Technik, keine Ausbildung, und dann wurde es ganz schnell schwierig.“

Es folgen viele Lehrer- und Hochschulwechsel: „Ich wusste nur, dass ich singen muss und eine Gesangstechnik brauche, auf die ich mich verlassen kann. Irgendwann habe ich eine Lehrerin getroffen, die mir Mut gemacht hat. Sie sagte: ‚Du wirst schon über die Runden kommen, ob solistisch oder im Chor.‘ Da dachte ich: ‚Perfekt – Hauptsache singen!‘ Und so bin ich einfach immer weitergestolpert.“

Ins Ensemble der Wiener Staatsoper kommt sie durch ein Vorsingen in Paris. „Ich dachte, es geht um die Rolle in der Henze-­Oper. Also habe ich nur zeitgenössische Stücke vorbereitet, aber die wollte niemand hören. Ich war so wütend, weil die ganze Arbeit umsonst war, und habe mich nicht einmal mehr fürs Vorsingen umgezogen, sondern bin in Straßenkleidung rauf und habe – glaube ich – Puccini gesungen. Tja, am Ende haben sie mir dann einen Ensemble­vertrag angeboten.“

Dafür braucht man richtig Wumms
„Carmen“. Vera-Lotte Boecker mit Piotr Beczała. Regie: Calixto Bieito.

Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Regie und analytische Philosophie

Die Marie in Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ will Vera-Lotte Boecker noch singen oder die Gilda in „Rigoletto“ – „egal wo. Dass dieses Wo jetzt Wien sein wird, ist schon verrückt.“ Die junge Sopranistin grinst. Und irgendwann, „wenn ich alles gesungen habe, was ich gerne möchte, dann würde ich gerne ins Regiefach wechseln. Bei Schauspielern ist das völlig normal, bei Sängern noch nicht. Ich habe eine große Leidenschaft fürs Regietheater. Ich mag die Struktur, die dahintersteckt, wie man eine Geschichte erzählt. Wenn man das gut macht, dann überrollt das einen.“ Struktur. Also das von seinen Einzel­teilen abhängige Gefüge ist es auch, was die Sängerin an Hans Werner Henze mag. Und da wären wir wieder bei ihrem Studium der analytischen Philosophie.

Bertrand Russell und George Edward Moore gehören dazu und auch Wittgenstein. Der Ansatz seines Frühwerks: Man kann philosophische Probleme nur verstehen, wenn man begreift, durch welche Fehlanwendung von Sprache sie überhaupt erzeugt werden. Ziel dieser Untersuchung ist die Unterscheidung von sinnvollen und unsinnigen Sätzen. 

Dafür braucht man richtig Wumms
„Das verratene Meer“. Vera-Lotte Boecker als Fusako mit Bo Skovhus. Regie: Jossi Wieler & Sergio Morabito.

Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Wir schweifen ab, aber der Exkurs erklärt die Denkschule, aus der Vera-Lotte Boecker stammt und mit deren Grundlagen sie auf ihre musikalische Welt zugeht und wie viele Gedanken sie sich darüber macht.

„In der Musik gibt es eine Logik, einen Aufbau, es gibt Schlussfolgerungen. Bei Wagner etwa ist es so, dass sich Akkorde nie auflösen. Das ist ein Spielen mit den Hörgewohnheiten. Es ist wie beim Denken und in der Sprache – dort hat man im Argumentenaufbau eine bestimmte Struktur. Ich sehe in dieser Struktur eine Schönheit, die ich auch in der Musik sehe und die mir sehr viel Freude macht. Wenn ich ein Stück lerne, dann versuche ich herauszufinden: Was steckt da eigentlich drinnen? Wie ist das gemacht? Henze durchzudenken ist wie Knobelei.“ Vera-Lotte Boeckers Augen leuchten, und sie grinst: „Einfach gesagt: Für Henze braucht man richtig WUMMS!“ 

Dass sie den hat, braucht ­Boecker nicht mehr zu beweisen. Wir verlassen das Turmzimmer und spazieren in Richtung Opern-Foyer. Wir reden über ihre Bühnen­präsenz und wie sie es macht, so völlig angstfrei zu wirken: „Ich denke immer an die Szene, an die Figur, an den Konflikt, den die Figur transportieren soll. Und die Figur weiß ja nicht, dass da ein Publikum sitzt. Das ist mein ganzer Trick.“ 

Dafür braucht man richtig Wumms
Seitenwechsel. Vera-Lotte Boecker in einer Ecke der Wiener Staats­oper. Später, sagt sie, wenn sie alle ihre Traumrollen gesungen hat, will sie auch Regie führen: „Ich mag die Struktur, die dahintersteckt.“

Foto: Philipp Schönauer

Zur Person: Vera-Lotte Boecker

Die junge Sopranistin stammt aus Brühl in Nordrhein-Westfalen. Sie studierte zuerst Philosophie und Literatur in Berlin und dann Gesang. Sie ist seit einem Jahr im Ensemble der Wiener Staatsoper und am Sprung zu einer internationalen Karriere. 

Zum Spielplan der Wiener Staatsoper