Der Zauber des Neubeginns, den uns Hermann Hesse verspricht, hat der eine Wirkungskurve?

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So ein ödes Wort für etwas so Schönes! Ich habe nach einem neutralen Wort gesucht, und dann ist eben dieses übrig geblieben. Ich meine damit: Wenn ich den Zauber über ein ganzes Leben lege, beschreibt er eine Gerade oder eine Kurve? Also dass der Zauber in jedem Lebensalter gleich ist, gleich stark sein kann, oder dass er eine Steigerung erfährt, einen Höhepunkt und ein Abfallen? Was kann der Zauber noch bieten, geht es dem Lebensende zu? 

Goethe schreibt in seinen „Maximen und Reflexionen“, wenn er den Homer liest, dann schaut er in den Sternenhimmel und denkt sich: Was wird einmal aus mir? Irgendwann weiß man, was aus einem geworden ist. Was dann? Ist es nicht wahrscheinlich, dass ich dann denken werde: Hoffentlich ändert sich nichts mehr! Bitte, kein Neubeginn!

Diese penetrante Forderung, sich ständig verändern zu sollen, hat in vielen, ich würde sagen, in den meisten Fällen das profane Ziel, uns zu verführen, Konsumenten immer neuer Produkte zu werden. Die Zeiten, in denen diese Einsicht linkes Stereotyp war, sind längst vorbei. Heute weiß jeder: Unser Lebenszweck besteht darin, zu kaufen. Was wir mit dem Gekauften anfangen – wurscht! Allerdings hat inzwischen die Meinung Gewicht bekommen, das sei gar nicht zu verurteilen, im Gegenteil, sondern in Wahrheit großartig. 

Denn was will der Mensch? Er will haben. Jemand zu sein ist unübersichtlich schwer. Etwas zu haben ist leicht, jedenfalls in unseren Breiten. Das Sein hat sich ins Private verzogen. Dort kann man jemand sein – ein Liebhaber, ein Gehasster, ein Gütiger, ein Hinterhältiger. Das kann man in der Öffentlichkeit alles auch sein, aber wer nimmt dort Notiz davon? Und wenn, wie lange? 

Bist heute Kanzler, bist morgen schon kaum jemand und übermorgen niemand. Hingegen, was du hast, hast du. Und wenn du es nicht mehr hast, kaufst du etwas Neues. Das ist doch großartig! Das ist der Endzustand eines jeden Versprechens! Wer nun glaubt, ich könne das nur zynisch meinen, der irrt. In der Bestellung liegt viel Zauber. Und wenn man ein Päckchen zugestellt bekommt, belebt sich dieser Zauber immer von Neuem. Es sind Augenblicke des Glücks. Wenn es nicht so wäre, würden wir nicht so gern bestellen. 

Und dann trete ich hinaus in den Sommer, und alles um mich her ist Versprechen. Ein Versprechen, das sich messen lässt. Mit einem sehr feinen Maßstab. Einem Maßstab, dessen einzige Einheit der Augenblick ist.

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Die Pandemie – dieser Gedanke kam mir heute morgen beim Zähneputzen, als ich mein Gesicht im Spiegel sah, ein ruhiges, entspanntes, weltabgewandtes Gesicht –, die Pandemie hat mein Zeitempfinden verändert. Einmal sind die Zeitabstände, in die ich meine nähere Zukunft eingeteilt habe, länger geworden. Was ich noch vor einem Jahr nicht konnte: weiter vorausdenken als zwei Wochen, das ist nicht mehr. Ich denke mich inzwischen in Jahren. Aber – und daraus wächst der Zauber – ich denke mich zugleich auch in Augenblicken. Wenn nichts geschieht, wird man entweder ungeduldig oder gelassen. In den ersten Wochen, vielleicht sogar Monaten, war ich ungeduldig. Das bin ich nun nicht mehr. 

Ich trete hinaus in den Sommer, und alles um mich herum ist Versprechen, die kühle laue Wärme des Morgens, die herben milden Gerüche, die quälenden schmeichelnden Geräusche. In der kleinsten Einheit des Augenblicks sind die Gegensätze noch nicht geschieden. Alles ist, wie es ist; alles ist wie die Liebe im Gedicht von Erich Fried: Es ist, wie es ist. Das Glück besteht darin, nicht zu fragen. 

Was aber bedeutet das?

Es kann bedeuten: dass ich endlich begreife, was Schönheit ist. Nämlich das Unteilbare, der Blitz in der Nacht, der für einen Augenblick, tatsächlich für einen Augenblick, alles sichtbar macht, zu schnell, um es zu analysieren, und das ist Schönheit. – Wie tröstlich wäre doch eine Predigt, die mit solchen Sätzen begänne!

Ich trete hinaus in den Sommer; es riecht nach Teer, und es ist, als ob ich das erste Mal Teer röche; es riecht nach frisch gemähtem Gras, und es ist, als ob ich frisch gemähtes Gras zum ersten Mal röche; ich höre das Geräusch einer elektrischen Kaffeemühle, und es ist, als ob ich dieses Geräusch zum ersten Mal hörte. 

Nun beginnt ein neuer Tag. Und der Tag könnte so lang werden, wie die Tage in der Kindheit waren. Als ich ein Kind war, wusste ich nicht, was Schönheit und was Glück sein können, weil ich darüber nicht nachdachte, und als ich dann darüber nachdachte, vertrieben die Gedanken die Empfindungen – aber jetzt: Jetzt trete ich am Morgen in den Sommer hinaus, und ich habe keinen Plan. Was ist ein Plan? Der Plan ist doch nichts anderes als ein Wunsch an die Zeit; der Wunsch, die Zeit möge so geduldig sein und auf meine Voraussicht Rücksicht nehmen. 

Wir lieben die Sonne und wissen doch, dass sie der Inbegriff der Katastrophe sein kann; wir lieben die Farbe Rot und wissen doch, dass sie die Farbe des Blutes ist, das wir lieber in seinen verborgenen Bahnen wünschen und nicht vor unseren Augen. Der Zauber des Neubeginns, auf den der sanfte Hermann Hesse seine Hoffnungen setzte, könnte sich als kataklystischer Fluch erweisen. Die Zauberwesen sind wir, immer und überall wir, wir selbst. Auch der zaubernde Engel der Geschichte sind wir, er schaut zurück auf das Alte, das nichts anderes ist als der erstarrte Zauber. 

Walter Benjamin, ein Bild von Paul Klee betrachtend, schreibt: 

„Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ 

Der Augenblick, zu dem wir sagen wollen, er möge stehen bleiben, der lässt uns nicht im Stich; er geschieht, und er geschieht – in jedem Augenblick.

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 70 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: Matou, Hanser Verlag, 2021

Weiterlesen: Alle Kolumnen von Michael Köhlmeier

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