Kamera an – Mikro ein. Vasily Barkhatov ist per Zoom aus Bonn zugeschaltet, wo er gerade seine Bregenzer-Festspiel-Produktion „Sibirien“ auf die Bühne gebracht hat, und zeigt sich im Gespräch genauso locker wie seine beneidenswerte Haarpracht. Der juvenile Look ist eventuell auch dafür verantwortlich, dass man ihn noch immer als „aufstrebenden Regisseur“ tituliert, was angesichts seiner Vita zwar stark untertrieben, andererseits aber auch ein schönes Zeichen dafür ist, dass man sich in der Opernwelt auch mit 39 noch zum Nachwuchs zählen darf.

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Von Bonn geht es direkt ans MusikTheater an der Wien, wo er die letzte Oper des 1996 verstorbenen polnisch-russischen Komponisten Mieczysław Weinberg inszenieren wird. Diese wurde erst 2013 in Mannheim uraufgeführt – Vasily Barkhatov war als junger Regisseur bei der Premiere anwesend und ist seitdem fasziniert von diesem, wie er es nennt, „harten Stück“. Die Handlung beruht auf Dostojewskis gleichnamigem Roman und begleitet, in Kürzestform, den seelisch kranken Fürsten Myschkin, der nach einem Sanatoriumsaufenthalt auf der Zugfahrt zurück nach Sankt Petersburg den Kaufmann Rogoschin kennenlernt. Es entspinnt sich ein abenteuerlich-grausames Spiel um Abhängigkeiten, Wahnsinn und Mord, an dessen Ende die von beiden Herren begehrte, aber gesellschaftlich übel beleumundete Nastassja als lebloses Opfer zurückbleibt.

Präzise, faszinierend, eigenständig

Das 944 Seiten umfassende Buch von Fjodor Michailowitsch Dostojewski hat für Vasily Barkhatov ebenfalls eine besondere Bedeutung. „Ich habe als Kind sehr viel gelesen, in der Pubertät aber damit aufgehört. Wir bekamen in der Schule vor den Sommerferien Leselisten, was eine Qual war, da wir als Teenager eher daran interessiert waren, Zeit mit Freunden draußen zu verbringen, als zu lesen. Man musste sich selber dazu zwingen oder wurde von den Eltern gezwungen – eine Folter war es in jedem Fall“, erinnert er sich amüsiert. „Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, stand ‚Der Idiot‘ auf der Liste, und dieser Roman hat meinen damaligen Sommer bestimmt.“ Ihn beeindruckte der Rhythmus der Erzählung, der in gewisser Weise Myschkins – und auch Dostojewskis – epileptischer Erfahrung folgt. „Die Gedanken rasen regelrecht durch seinen Kopf, sie zirkulieren darin und stoßen manchmal auch zusammen. Er führt Monologe und analysiert fast schon manisch alles. Wie präzise das formuliert ist, fand ich faszinierend.“

Ich hatte ein anderes Leben gesehen und erfahren, wie Theater, wie Oper sein kann.

Regisseur Vasily Barkhatov über sein Erweckungserlebnis in Berlin

Weinberg habe dann ein ebenfalls sehr persönliches Stück daraus gemacht, denn man könne keine Oper komponieren und dabei den Text des Romans im Kopf haben. Das Thema bleibt ähnlich, die Botschaft nicht zwingend. „Wenn man sich Weinbergs Biografie anschaut, erkennt man, dass auch er eine Version von Fürst Myschkin ist. Er musste sein Heimatland Polen verlassen (vor den Nazis fliehend, Anm.) und wurde in eine Welt voller eigenartiger und komplizierter Menschen verpflanzt.“

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Und täglich grüßt Myschkin

Wie gedenkt Vasily Barkhatov, dieses vielschichtige Werk zu inszenieren? „Eine Person mit derart bewussten Gefühlen wie Myschkin, welche die Leiden anderer Menschen wirklich nachempfinden kann und alles richtig machen will, würde auch in der modernen Gesellschaft scheitern. In meiner Inszenierung wiederhole ich die gleichen Umstände immer wieder und kehre stets zum Ausgangspunkt zurück. Es ist eine Art permanenter Loop, wie im Film ‚Und täglich grüßt das Murmeltier‘ mit Bill Murray. Man erleidet immer wieder dieselbe Folter, versucht, die Umstände zu ändern, schafft das aber nur in kleinem Maße. Das Ende bleibt immer gleich, der Leidensloop ist endlos.“ Für ihn sei das eine Metapher für den Veränderungswillen empfindsamer Menschen, die zwar wüssten, wie man Dinge verbessern könne, letztlich aber kaum Erfolg damit hätten.

Pu der Bär

Der im Rest der Welt über Jahrzehnte weitgehend in Vergessenheit geratene Mieczysław Weinberg ist dem in der damaligen UdSSR aufgewachsenen Regisseur seit Kindesbeinen an vertraut. „Er hat die Musik für die beiden berühmtesten Zeichentrickfilme in der ehemaligen Sowjetunion geschrieben – ‚Pu der Bär‘ und ‚Die Ferien des Bonifazius‘. Keine kindische Disney-Musik, sondern sehr substanziell. Weinberg hat auch viele bekannte Filmmusiken komponiert, zum Beispiel für das Drama ‚Wenn die Kraniche ziehen‘, das 1958 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde.

Als ich vor fast zehn Jahren meine erste Produktion am Nationaltheater Mannheim – ‚La damnation de Faust‘ von Hector Berlioz – gemacht habe, sah ich auf dem dortigen Spielplan, dass die Welturaufführung von ‚Der Idiot‘ stattfinden sollte. Ich bin extra einen Tag länger geblieben, um das sehen zu können, und war beeindruckt davon, wie Weinberg die zentralen Handlungsstränge dieses imposanten Romans aufnehmen konnte. Seine musikalische Sprache ist psychologisch präzise und beinahe kinematografisch. Ich habe mich sofort in das Stück verliebt und wollte es seitdem unbedingt einmal machen.“ Ein Glück, dass Intendant Stefan Herheim es ihm anbot.

Regie des Lebens

Vasily Barkhatov hatte mit Theater lang gar nichts am Hut. „Ich habe geschrieben, weil das meinem Vater, der Schriftsteller ist, sehr wichtig war, und sogar an Wettbewerben teilgenommen. Aber das ‚Projekt Mozart‘ ist leider gescheitert – ich war nicht gut genug“, lacht es aus dem Laptop-Bildschirm.

Nach der Schule wollte er Programmierer werden und „smarte Computerspiele entwickeln“. Sein Vater hielt davon wenig und organisierte ein Treffen mit einer Kunstprofessorin, die ihn schließlich zur Opernregie brachte.

„Im dritten Jahr der Ausbildung bin ich mit zwei Kollegen nach Berlin gefahren. Das war meine erste Auslandsreise, ich habe mir das Geld dafür von Verwandten geborgt. Wir saßen als Studenten bei den Proben zu Peter Konwitschnys ‚Don Giovanni‘-Inszenierung in der Komischen Oper Berlin. Nach diesen eineinhalb Wochen, in denen ich überall war – Staatsoper, Deutsche Oper Berlin, Schaubühne, Deutsches Theater, Berliner Ensemble, Neuköllner Oper –, kam ich als neuer Mensch zurück. Ich hatte ein anderes Leben gesehen und erfahren, wie Theater, wie Oper sein kann.“

Zur Person: Vasily Barkhatov

Geboren in Moskau, schloss er sein Studium am Russischen Institut für Theaterkunst 2005 ab. Er zählt zu den wichtigsten Regisseuren seiner Generation und hat in knapp zwei Jahrzehnten ein enormes Opernrepertoire – von Hector Berlioz’ „La damnation de Faust“ und der Uraufführung von Aribert Reimanns „L’invisible“ bis zu Umberto Giordanos „Sibirien“ und Sergei Prokofjews „Der Spieler“ – inszeniert.

Zu den Spielterminen von „Der Idiot“ in der Halle E