Walter Kobéra: Obsession am Pult
„Der Dirigent entlockt den Musikern mit telepathischen Fähigkeiten die gewünschten Töne“. So sieht Walter Kobéra seine Profession. In der Kammeroper demonstriert er diese außergewöhnliche Begabung in Peter Eötvös Musiktheater „Der goldene Drache“.
22 Ereignisse in 90 Minuten. Wie in einem tragisch-skurrilen Panoptikum überschlagen sich im titelgebenden Thai-China-Vietnam-Restaurant die Geschehnisse. Vorne im Gastraum löffeln die Besucher ihre Suppen, hinten in der Küche nehmen befremdliche Dramen ihren Lauf. Einen Chinesen ohne Aufenthaltsgenehmigung und Krankenversicherung plagen heftige Zahnschmerzen, von denen ihn Kollegen mittels einer Rohrzange befreien. Eine ungewollt schwangere junge Frau berichtet ihrem Großvater von ihren Beziehungsproblemen. Die geizige Ameise zwingt die hungrige Grille erst zu kostenloser Arbeit, dann zur Prostitution. Zwei Stewardessen finden den blutigen kariösen Zahn des Chinesen in ihrem Essen.
„Der goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig war als Theaterstück nach seiner Uraufführung im Akademietheater ein Sensationserfolg und wurde von Peter Eötvös – mit Stücken wie „Drei Schwestern“ und „Angels in America“ einer der meistgespielten Komponisten der Gegenwart – 2014 zur Oper verdichtet. Aus ursprünglich 45 Szenen wurden 22, drei Sänger und zwei Sängerinnen verkörpern alle 17 Rollen. Männer spielen Frauen, Europäer spielen Asiaten, Junge spielen Alte. Und auch umgekehrt.
In der Kammeroper bringt Walter Kobéra, Experte für zeitgenössisches Musiktheater und spezialisiert auf Uraufführungen, das Kaleidoskop aus Katastrophen und Momentaufnahmen auf die Bühne. Er hat schon mehrfach mit Peter Eötvös zusammengearbeitet – etwa bei „Paradise Reloaded“, einer Uraufführung, die ihm der Komponist 2013 persönlich gewidmet hat. Wir trafen den Vielbeschäftigten – Walter Kobéra leitet seit 30 Jahren die Neue Oper Wien, ist Jurymitglied diverser internationaler Gesangswettbewerbe und Lehrbeauftragter für Moderne Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – in einer Probenpause zum Gespräch im Café Engländer.
Sucht und Begeisterung
Während Musik den meisten Menschen als emotionales Ventil dient, ist sie für den studierten Violinisten vor allem Passion. „Ich bin von klein auf mit Musik aufgewachsen, und diese Beschäftigung ist langsam zur Obsession geworden. Im Wort Leidenschaft steckt auch der Begriff Leiden, und manchmal ist es das auch. Man kann das Leiden aber auch als kreativen Motor begreifen, entsteht es doch in der Reflexion oft daraus, dass man mit dem Produzierten nicht zufrieden ist oder das Gefühl hat, mit einer Arbeit nicht fertig geworden zu sein. Wobei ich einmal gelesen habe, dass ein Künstler, sobald er behauptet, sein Werk sei vollendet, eigentlich aufhören oder sterben müsste.“
Mittlerweile habe sich die Leidenschaft zur Sucht ausgewachsen, die nicht therapierbar, zum Glück aber auch nicht ungesund sei. „Es ist mir auch schon passiert, dass ich mitten in der Nacht aufgewacht bin, weil ich träumte, dass in der Partitur, die ich gerade neu eingerichtet habe, auf Seite 25 links oben ein Fehler ist. Als ich nachgeschaut habe, fand ich tatsächlich an exakt dieser Stelle einen Fehler.“ Kennwort: Leidenschaft.
Barrierefreie Beschäftigung
Walter Kobéra hat Humor, was einem die Auseinandersetzung mit seinen für harmoniebedürftige Ohren mitunter herausfordernden Arbeiten deutlich erleichtert. Er selbst wünscht sich mehr Nonchalance im Umgang mit zeitgenössischer Musik. „Viele empfinden eine Art Barriere, weil sie Sorge haben, über nicht genügend Wissen zu verfügen. Natürlich ist neue Musik komplex, aber um das Finale des zweiten Akts von „Le nozze di Figaro“ verstehen zu können, braucht es auch Wissen. Ich finde, darum geht es aber nicht, ich muss mich vielmehr darauf einlassen können und mein falsches Sicherheitsdenken, dass ich auch unterhalten werden muss, wenn ich mir eine Eintrittskarte kaufe, über Bord werfen.“
Als Beispiel nennt Walter Kobéra jene legendäre Klage aus dem Jahr 2001, bei der ein Arzt monierte, „Die Fledermaus“ in der Inszenierung von Hans Neuenfels bei den Salzburger Festspielen habe nichts mit dem ursprünglichen Werk zu tun gehabt, weshalb er den Eintrittspreis zurückerstattet haben wollte. „Das, finde ich, ist ein falsches Verständnis von Unterhaltung. Es geht doch nicht um eine Ablenkung, sondern darum, sich geistig mit einem Werk auseinanderzusetzen. Und diese Möglichkeit sollten barrierefrei alle haben, ohne, dass man sich vorher Wissen aneignen muss.“ Die Klage wurde übrigens abgewiesen.
Zeitgemäßes Vokabular
Die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Aufführung von „Der goldene Drache“ in einem gerichtlichen Geschmacksverfahren enden könnte, ist indes verschwindend gering. Wer Eötvös und Kobéra schätzt, weiß auch, was ihn zu erwarten hat: Neue Perspektiven auf das Hier und Heute. Auch des musikalischen Leiters Vorliebe für Uraufführungen liegt darin begründet. „Ich bin neugierig auf neue Sichtweisen und ein neues Vokabular. Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert, unsere Sprache hat sich doch auch verändert und ist nicht vergleichbar mit der Ausdrucksweise von vor hundert Jahren. In der Musik ist das ähnlich, wir haben ebenfalls ein anderes, zeitgenössisches Vokabular zur Verfügung.“
Ob eine Anfrage tatsächlich zum Dirigat führt, hängt von den Ausdrucksmöglichkeiten ab.
„Ich entscheide mich dann für ein Stück, wenn es mir etwas zu erzählen hat. Auch textunabhängig. Reine Instrumentalmusik kann mir auch etwas erzählen und hat meist ebenfalls eine Dramaturgie. Ich habe auch Germanistik studiert und dabei gelernt, dass Literatur sehr viel mit Musik zu tun hat, sowohl in der Form als auch in der Erzählung. Heimito von Doderers „Die Wasserfälle von Slunj“ sind in ihrer Anlage Beethovens 7. Sinfonie nachempfunden. Eine Fuge erzählt uns auch etwas, sie ist nicht bloß reine Fingerübung, sondern folgt einer Dramaturgie.“
Das Faszinierende bei Oper und Musiktheater sei für ihn immer die Kombination aus Text, Sprache und Musik. „Speziell bei ‚Der goldene Drache‘ gehen Musik und Text eine kongeniale Verbindung ein und dienen nicht bloß als Illustration des jeweils anderen.“ Dafür braucht es auch ausgeprägtes schauspielerisches Talent in den Reihen der Sänger*innen. „Das Anforderungsprofil an heutige Sänger ist generell ein ganz anderes. Sie sind Singdarsteller.“ Darauf nimmt Walter Kobéra auch in seinen Jurytätigkeiten bei internationalen Gesangswettbewerben Rücksicht. „Dieser Perfektionswahn, den wir kennen, ist für mein Verständnis ein bisschen zu sehr ausgeprägt. Ich würde mir da einen lockereren Umgang wünschen, denn es sind neben dem technischen Können auch andere Parameter wichtig.“
Es sei durchaus legitim, auch einmal zu scheitern. „Wenn man Grenzen ausloten will, und das muss man als Künstler, muss auch das Scheitern eine Kategorie sein.“ Das versuche er auch den von dieser Aussicht nicht gerade begeisterten Studierenden beizubringen. „Es ist für die persönliche Entwicklung wichtig, nützt einem aber nur dann, wenn man es auch analysiert.“
Klingender Raum
Die Kammeroper, in der sich „Der goldene Drache“ niederlässt, ist ein relativ kleiner, intimer Rahmen. Wie wirkt sich dieser Umstand auf die musikalischen Ambitionen aus? „Der Raum ist für die Klangerzeugung entscheidend. Das hat mit Balance zu tun, man muss wissen, wie die Instrumentation klingt, wie man das Orchester positioniert. Ich habe vor Jahren die Kirchenoper von Benjamin Britten dirigiert, darin kommt ein Männerchor vor, bei dem Britten zusätzlich mit einem Echoeffekt gearbeitet hat. Das hat in einer bestimmten Positionierung der Herren überhaupt nicht funktioniert, erst, als wir diese geändert haben, ist es gelungen. Das muss man berücksichtigen.“
Nach dieser Produktion wird Walter Kobéra an der Neuen Oper Wien „Kapitän Nemos Bibliothek“ von Johannes Kalitzke umsetzen. „Hochspannend, weil es von Simon Meusburger mit Puppen inszeniert wird. Da muss das Publikum auch tief in die Geschichte und in die Klangwelten eintauchen, was dank der Musik unproblematisch funktionieren dürfte.“
Zum Abschluss eine Frage, die sich auf seinen ursprünglichen Beruf als Violinist bezieht: Spielen Sie noch Geige, Herr Kobéra? „Nur, wenn ich bei Festivitäten von der Familie dazu gezwungen werde“, meint er amüsiert. „Geige zu spielen, ist Hochleistungssport, und jeder Sportler weiß, dass er trainieren muss. Wenn man Geige nicht übt, klingt es betrüblich. Das Schlimmste daran ist aber, dass ich weiß, wie es ginge, nur der untrainierte Körper macht nicht mit.“