Im Falle des Falles: Das Stück „Fallen“ in der Drachengasse
Was passiert, wenn es plötzlich keine logische Verkettung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mehr gibt? Das Stück „Fallen“ beschäftigt sich ebenso eindringlich wie humorvoll mit dieser Fragestellung.
„Als ich ‚Fallen‘ schrieb, hatte ich gerade meine Zwanziger hinter mir gelassen und die Welt ihren Yes We Can-Optimismus“, schreibt Autorin Anna Gschnitzer über ihren Theatertext „Fallen“, der noch bis 26. November in einer Inszenierung von Isabella Sedlak im Theater Drachengasse zu sehen ist. Sie setzt fort: „Ich schrieb diesen Text mit dem Jahr 2015 im Rücken, aus dem Gefühl heraus, dass sich da gerade etwas Grundlegendes verändert hatte, in der Welt und gleichzeitig in mir. Ja, ich empfand diese Zeit als Zäsur, als einen Moment, in dem sich die Zeit, in ihrer Seinsform überhaupt, veränderte. Ich hatte sie mir nämlich bis dahin linear vorgestellt.“
Wenn die Vorstellung einer linearen Abfolge von Ereignissen zerbricht, dann beschreibt Anna Gschnitzer das als Reißen einer Perlenkette. Die Perlen fallen, wollen nicht aufhören zu fallen, „weil da kein Boden mehr war“. So ähnlich dürfte sich für Regisseurin Isabella Sedlak teilweise auch die Beschäftigung mit dem Text angefühlt haben, den sie als sehr fragmentarisch beschreibt. „Es war eine Suche nach dem nächsten greifbaren Moment. Bei der es aber auch vorkam, dass im Moment des Zugreifens auch schon wieder alles zerbröselte“, führt sie aus.
Die Perspektive kippt
Zudem ist es ein sehr poetischer und rhythmischer Text, fügt sie hinzu. „Ich habe beim Lesen sofort Menschen sprechen gehört, dachte mir gleichzeitig aber auch, dass ich den Text gerne an eine reale Situation anbinden würde, damit die Inszenierung angreifbarer wird.“ So gibt es in Isabella Sedlaks Inszenierung drei konkrete Charaktere, gespielt von Tamara Semzov, Sonja Romei und Ingeborg Schwab, wie auch eine konkrete Verortung – in einem Museumsraum. „Innerhalb dieses Raumes kann dann auch sehr viel Absurdes passieren“, schließt sie ihre Ausführungen ab.
Isabella Sedlak setzte sich während eines Lockdowns zum ersten Mal mit dem Text auseinander. Das Theater Drachengasse war zuvor mit der Frage, ob sie gerne eine Produktion übernehmen würde, auf sie zugekommen. Weil es in „Fallen“ um die zufällige Begegnung zweier Menschen vor einem William Turner-Gemälde geht, es zu dieser Zeit aber kaum Möglichkeiten für solch zufällige Treffen gab, fühlte sich Sedlak von Gschnitzers Text sofort angesprochen. „Vor der Pandemie war es nur schwer vorstellbar, dass es die Möglichkeit solcher Begegnungen einmal nicht mehr geben könnte. Und genau das verhandelt ja auch der Text – dass die Perspektive kippt und die Privilegien, die zuvor noch selbstverständlich waren, plötzlich weg sind. Ohne die Corona-Thematik im Stück explizit ansprechen zu wollen, gab es da diese Verbindung, die mich angezogen hat.“
Endloses Fallen
Der Titel „Fallen“, so Anna Gschnitzer, beschreibt einerseits den Moment, in dem man den Boden unter den Füßen verliert, gleichzeitig aber auch den Verlust der zentralen Perspektive, die an gewisse Privilegien gebunden ist. Eine Perspektive, die, wie die Autorin hinzufügt, „immer schon konstruiert war und die Sicht auf die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versperrte. Das Kippen oder Fallen der Perspektive kann es auch ermöglichen, dass man diese Dinge plötzlich sieht.“
Isabella Sedlak dachte zunächst an Momente des Hinfallens, nach und nach aber immer mehr an endloses Fallen. „Die Filmemacherin und Autorin Hito Steyerl sagte einmal, dass wenn alles um einen herum dunkel ist, man gar nicht bemerken würde, dass man fällt. Es braucht eine Form von Anknüpfungspunkt, um zu begreifen, dass man sich im Zustand des freien Falls befindet“, erläutert die Autorin einen ihrer Referenzpunkte. In Gschnitzers Stück ist zwar nicht alles in Dunkelheit gehüllt, dennoch beschreibt es einen diskontinuierlichen, nicht-linearen Raum, in dem man gemeinsam rückwärts hineinfällt. Für Gschnitzers Paar vor dem Gemälde ist alles und gleichzeitig gar nichts möglich.
An die Zukunft glauben
Obwohl der Text ein Bild zeichnet, das ohne Fluchtpunkt – also ohne Zukunft, auf die alle gemeinsam zusteuern – auskommt, entlässt der Theaterabend das Publikum nicht ganz ohne Hoffnungsschimmer. Dazu trägt auch der Humor bei, der für Anna Gschnitzer ein wichtiger Bestandteil ihrer Theatertexte ist. „Die Figuren nehmen sich ja auch selbst nicht zu hundert Prozent ernst und haben dadurch eine gewisse Leichtigkeit“, merkt sie an. Lachend fügt sie hinzu: „Außerdem verbringe ich viel Zeit mit den Figuren, da ist es mir schon wichtig, dass sie mir auch sympathisch sind.“
Was Anna Gschnitzer und Isabella Sedlak dabei hilft, die Hoffnung nicht aufzugeben und an eine Zukunft zu glauben? „Mit der Zuspitzung der Klimakrise und dem Nicht-Handeln der Politik habe ich immer wieder düstere Momente, aber ich denke auch an meine Tochter, der ich gerne beibringen möchte, Hoffnung zu haben. Ich fände es eine richtig miese Nummer, die nachfolgenden Generationen mit all den Problemen allein zu lassen“, beantwortet Anna Gschnitzer die auch in ihrem Stück gestellte Frage.
„Ich war in der Probenzeit zu ‚Fallen‘ bei einem Pussy Riot-Konzert in Wien, bei dem eine der ehemaligen Inhaftierten auf der Bühne vom Prozess erzählte. Für mich war es unglaublich beeindruckend, sie zu sehen und ihr zuzuhören. Wenn ich Menschen zuhöre, die so viel bewegt haben, dann gibt mir das Hoffnung“, beschreibt Isabella Sedlak ihre Ankerpunkte, wenn ihr der Boden unter den Füßen wegzurutschen droht.