Auf all diesen September-Premieren herrschte plötzlich wieder diese kribbelige Form der Aufregung, die irgendwo zwischen Ländermatch, Party und Schulbeginn liegt. Die Damen tragen wieder das Haupthaar zu flotten Tafttürmchen modelliert, die Preziosen baumeln an Hals und Ohren, die Herren sind aufgefescht in der Bürger-Rüstung Anzug und Krawatte. Der nie genug gekühlte Sekt perlt, zwischen den Ladys fliegen die „Gut schaust du aus“-Sätze wie Messerchen und, an die nächste Plauder-Partnerin geflüstert, folgt meist so was wie: „Wahnsinn, hast du gesehen?! In diesem Gesicht regt sich doch nichts mehr.“

Anzeige
Anzeige

Endlich stellte sich wieder dieses präpandemische Gefühl ein, das zur DNA des Bühnenlebens gehört und gleichzeitig zum Lifestyle der Wiener Gesellschaft. Über Theater- und Opernbesuche wurde im bildungsmotivierten Bürgertum nie viel nachgedacht, die wurden einfach gemacht, so wie man in regelmäßigen Abständen auf ein Schnitzel ins „Kameel“ geht oder beim Demel in eine Annatorte köpfelt. So schaurig wie surreal wirkten jene Zuschauerräume in der Rückbetrachtung, die in den vergangenen Zeiten der Verängstigung und Verunsicherung an ein verwahrlostes Gebiss mit vielen Leerstellen und Lücken erinnerten.

So gesehen hatte die heiße Premierenwoche Anfang September nicht nur etwas Elektrisierendes, sondern auch etwas sehr Tröstliches. Anna Karenina warf sich an der Josefstadt in einer modernistisch überhöhten Inszenierung von Amélie Niermeyer vor den Zug; herausragend Raphael von Bargen als verlassener Ehemann und Alma Hasun als quirlige Histrionikerin Kitty. In Schnitzlers „Weitem Land“ in der düsteren, von Hoffnung gesäuberten Regie von Barbara Frey klirrten die Seelen der Hofreiters (Katharina Lorenz und Michael Maertens) in Kälteausbrüchen aneinander. An allen Spielstätten legte sich ungeachtet des Gebotenen eine Form der Euphorie über das Publikum, als ob eine verdrängungswürdige Zeit gerade noch glimpflich zu Ende gegangen sei.

Einer der Höhepunkte der Premieren-Stafette zum Saisonauftakt war natürlich Rokoko-Harry bei seinem Volksopern-Debüt im Part von Ludwig XV. Lotte de Beer, die neue Intendantin, hat sehr genau begriffen, dass für ihre „Dubarry“ nicht nur ambitioniertes Stimmpersonal, eine Orgie an Reifröcken und turmhohen Perücken (die damals oft auch als Mäusenester dienten) notwendig ist, sondern auch ein PR-Gag in Form eines Stars. Harald Schmidt erfüllte seine Aufgabe mit Böllergeräuschen, war von einem gewissen „Originaltext-Aufstand“ getrieben, wie er es selbst nannte, und modelte die im ersten Teil von kleinen Längen getragene Operette zu einem funky Talkshow-Experiment um, das oftmals die Frage im Publikum „Warum haben sie ihn nicht schon viel früher reingeschickt?“ hochzischeln ließ: Als Trans-Kammerzofe hätte sich Herr Schmidt gut gemacht, dann hätte man nicht nur Prostitution als Karriereoption, sondern auch hochmodern Geschlechtsidentitäten verhandelt.

Harald Schmidt ist auch im echten Leben theaterverrückt; er kennt jedes Gemetzel zwischen Claus Peymann und Peter Stein und weiß, wann Peter Zadek wen beleidigt hat. Am Ende eines Gesprächs im Hotel Regina rief er in den Intendanten-Wald: „Holt die Leute endlich zurück ins Theater! Keiner will mehr Schauspieler sehen, die in der Heilerde wühlen und Texte, begleitet von Untertiteln, rückwärts sprechen müssen.“ So gesehen nahm diese Saison einen höchst ambitionierten, heilerdenfreien Anfang. Nicht nur für Harry unser.

Anzeige
Anzeige

Zur Person: Angelika Hager

Sie leitet das Gesellschaftsressort beim Nachrichtenmagazin „profil“, ist die Frau hinter dem Kolumnen- Pseudonym Polly Adler im „Kurier“ und gestaltet das Theaterfestival „Schwimmender Salon“ im Thermalbad Vöslau (Niederösterreich).