Birgit Minichmayr: „Ich bin eine einzige Geschmacklichkeit“
Birgit Minichmayr fasziniert als Menschendarstellerin mit verstörend effektiven Qualitäten. Nun spielt der Star des Burgtheaters in der progressiven TV-Serie „Das Netz“ eine Rechtsanwältin im korrupten Sumpf des Weltfußballs. Ein Gespräch über Unsummen, Unsicherheiten und die Unwägbarkeiten des Kulturberufs.
Jean-Luc Godard ist tot. Birgit Minichmayr erfährt vom Ableben des Filmregisseurs via Push-Nachricht. Sie befindet sich gerade in der Maske für das anbei publizierte Fotoshooting und reagiert ungefiltert auf die jähe Meldung. Erst lautstark bestürzt, dann entschieden dankbar. „Er durfte auf ein langes, erfülltes Leben zurückblicken und hat uns viele wunderbare Werke hinterlassen“, formuliert sie mit jener angeraut tiefen Stimme, die Liebhabern der darstellenden Künste so vertraut ist.
Als sie mit 22 Jahren zum ersten Mal die Bühne des Burgtheaters betrat, um als Dirne in Arthur Schnitzlers „Reigen“ zu debütieren, prophezeiten ihr Kritiker eine gloriose Zukunft. Diesfalls sollten sie recht behalten. In zwei Jahrzehnten hat sie sich den bestimmten Artikel vor dem Nachnamen erarbeitet: die Minichmayr. Das „von“ des Künstlers, der ebenso diskrete wie explizite Adelstitel.
Im Gespräch ist sie Birgit. Reflektiert, ironisch, klug, ehrlich. Konzentriert in den Antworten, durchlässig in den Gesten, gelöst im Umgang. Sie sei eine Schauspielerin, „derentwegen das Publikum ins Theater geht“, so die Jury des heuer erstmalig verliehenen Elisabeth-Orth-Preises, mit dem Birgit Minichmayr für ihre phänomenale Darstellung der Maria Stuart ausgezeichnet wurde, in ihrer Begründung. Ihretwegen werden aber auch Kinokarten gekauft und TV-Geräte eingeschaltet. Und wenn in Fußballstadien Zehntausende „Tage wie diese“ der Toten Hosen intonieren, liegt auch das in ihrer Ausdruckskraft begründet, denn sie hat den Song, der 2012 zur inoffiziellen EM-Hymne avancierte, gemeinsam mit Campino geschrieben.
Mörderisches Business
Die Welt des Fußballs streift die Schauspielerin auch in ihrer jüngsten Fernseharbeit. „Das Netz“ ist ein innovatives länder- und geschichtenübergreifendes Serienkonzept der Netz GmbH, eines Gemeinschaftsunternehmens von Red Bull Media House und Beta Film, bestehend aus drei Erzählsträngen, die sowohl abgeschlossen funktionieren, einander durch einzelne Charaktere und Storylines aber auch ergänzen – ein fiktives Szenario über die dunklen Machenschaften im Weltfußball bildet dabei den realitätsnahen Hintergrund. Ausgestrahlt unmittelbar vor der Fußball-WM in Katar, das als Schauplatz international für hitzige Diskussionen sorgte, bei ServusTV („Prometheus“ und „Spiel am Abgrund“, jeweils 8 Folgen, ab 1. November, „Power Play“, 6 Folgen, ab 6. November) und via ServusTV On.
Birgit Minichmayr spielt in „Das Netz – Spiel am Abgrund“ die Berliner Rechtsanwältin Lea Brandstätter, deren Freund David Winter, ein Fußballscout, bei einem Autounfall ums Leben kommt. Erste Zweifel am Zufallstod verdichten sich, ihre Ermittlungen führen sie in die höchsten Ränge des korrupten Fußballsystems und in die tiefsten Abgründe sogenannter Transfers, bei denen junge Talente, vorrangig aus afrikanischen Schwellenländern, wie Ware feilgeboten werden.
„Dieser Menschenhandel ist kein Märchen, sondern beruht auf Tatsachen“, erklärt die Hauptdarstellerin. „Alle wollen einen neuen Messi entdecken, und dabei bleiben viele auf der Strecke, denn die Sorge, die Kümmernis, die Verantwortung wird natürlich nicht übernommen für diejenigen, die es nicht schaffen.“ Deren drohende Rückkehr in ihre Heimat sei oft dermaßen mit Scham besetzt, dass sie lieber in Europa vor die Hunde gingen.
Mit Fußball hat sie selbst gar nichts am Hut. „Es ist auch nicht notwendig, dass eine private Verbindung vorherrscht, um etwas glaubhaft spielen zu können. Aber ich kann die Begeisterung, etwas im Kollektiv zu erleben und mit anderen zu teilen, verstehen, weil ich sie von Konzerten kenne. An der Serie haben mich die Machenschaften und das korruptive Element interessiert.
Ich kann den entfesselten Kapitalismus, bei dem Fußballer um hunderte Millionen gehandelt werden, nicht nachvollziehen. Mir fehlt jegliches Verständnis dafür, wie viel Geld es da gibt.“ Ihre Rollenauswahl gestalte sich generell eher intuitiv und subjektiv.„Bekomme ich einen Zugang zu etwas? Reizt mich etwas? Wobei natürlich das Drehbuch als Sprungbrett für Interesse oder Desinteresse fungiert. Manchmal lehne ich auch etwas ab und sehe später, dass es doch funktioniert hätte. Dafür dann Reue zu empfinden, habe ich zum Glück schon abgelegt. Manchmal irrt man eben.“
Wider die Dämonen
Ebenfalls abgelegt hat sie jene seelenzerfressenden Neurosen, die sie am Anfang ihrer Karriere fest im Bann hielten. „Wenn ich das Gefühl hatte, dass mir im Spiel etwas nicht geglückt ist, habe ich darauf mit großer Scham mir gegenüber reagiert. Ich konnte nächtelang wach liegen, weil mir im Bett plötzlich eingefallen ist, wie ich einen Take, der am Tag gedreht wurde, hätte spielen sollen. Die Mindfucks, regelrechte Gehirnbeschimpfereien, die mir das bereitet hat, waren unerträglich.“ Mit zunehmender Routine habe sie das ebenso in den Begriff bekommen wie das, was sie ihre „Dämonen“ nennt.
„Stimmen, die einem erzählen, dass einem jetzt gleich etwas Peinliches auf der Bühne passieren wird. Man bekommt zum Beispiel in der Sekunde seine Tage, ohne es zu bemerken. Oder man bekommt Diarrhö. Ich glaube, das war eine Form, um mit der Live-Situation umzugehen“, lacht sie retrospektiv. Dass sie in ihrer nächsten Burgtheater-Premiere in Dostojewskis „Dämonen“ – Regie: Johan Simons – auf der Bühne stehen wird, ist reiner Zufall.
Mit Beurteilung hat sie hingegen noch nie Probleme gehabt. Was zweifellos ein Vorteil ist, wenn man ihr ständig unterzogen wird. „Damit komme ich klar, denn es ist eine Geschmacklichkeit. Und ich bin eine einzige Geschmacklichkeit, die Leute können Gefallen an mir finden oder nicht, manchen gehe ich auf die Nerven, andere können viel mit mir anfangen. Das ist legitim.
Es ist auch nicht meine Herangehensweise, Erwartungen zu bedienen.
Birgit Minichmayr, Schauspielerin
Mit Shakespeare auf Tour
Aktuell kann man sie im Burgtheater als Maria Stuart und in Simon Stones „Komplizen“ sehen. 2021 kam mit „As An Unperfect Actor“ ihr erstes Album auf den Markt – von Bernd Lhotzky jazzig vertonte Shakespeare-Sonette, mit denen sie im nächsten Jahr auf Konzerttournee gehen möchte.
Sie hofft, dass sich dafür ein Publikum findet, denn natürlich hätten sowohl das Theater als auch das Kino sehr unter der Krise zu leiden. „Wie alle Versammlungsorte“, konstatiert Birgit Minichmayr. „Durch die Lockdowns haben sich die Menschen daran gewöhnt, ihre Streamingdienste abzurufen, manche Filme kommen gar nicht mehr ins Kino. Damit schrumpft ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens, und es liegt in unserer Verantwortung, ob wir das zulassen, wie wir unser Begehren äußern.“
Wie sollte das Theater auf die mit kollektiver Angst einhergehenden aktuellen Ereignisse reagieren? „Ich glaube schon, dass wir die Aufgabe haben zu unterhalten. Aber nicht im kommerziellen Sinne der Unterhaltungsindustrie, sondern im Sinne der Unterhaltung über etwas. Den Stoff dafür sollten wir anbieten. Natürlich ist in der Krise der Bäcker wichtiger als die Kunst – aber für mich ist sie ein Ventil, das alles überhaupt aushalten zu können, mich inspirieren zu lassen, einen anderen Blick auf die Dinge zu werfen.“ Jeder müsse für sich selbst entscheiden, ob er dieses Geschenk, das Kunst biete, haben möchte.„Und weil man mich auch oft fragt, was der Theaterbesucher denn mitnehmen solle: Wer bin ich, das zu sagen?“
Zur Person: Birgit Minichmayr
Die 1977 in Linz geborene Schauspielerin erhielt ihre Schauspielausbildung am Max Reinhardt Seminar in Wien. Schon während ihrer Studienzeit wurde sie am Wiener Burgtheater engagiert. Nach einer Castorf-Produktion bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen wechselte sie 2004 zu Castorf an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. 2007 kehrte sie ans Burgtheater zurück, bevor sie 2011 ans Münchner Residenztheater ging, dann arbeitete sie frei. Die vielfach ausgezeichnete Schauspielerin, u. a. mit dem Ulrich-Wildgruber-Preis und dem Nestroy-Theaterpreis, ist auch in zahlreichen Filmen zu sehen. Birgit Minichmayr ist seit der Spielzeit 2019/20 wieder festes Ensemblemitglied am Burgtheater.