Camilla Nylund: „Ich gehe los und schaue, was passiert“
Mit fünfzehn debütierte sie als Maria Magdalena, neulich als Tosca, Isolde und Brünnhilde. Operndiva Camilla Nylund über ihre Karriere, warum sie nicht Tierärztin wurde, über André Heller und ihren Kraftplatz mit Plumpsklo.
Manche Dinge hat Corona leichter gemacht: entspannte Interviews mit
vielbeschäftigten Menschen zu führen zum Beispiel. Allein die Terminfindung ist einfacher, und so sitzt Operndiva Camilla Nylund nun entspannt in ihrer Wohnung in Dresden und wir auf der Terrasse unseres Büros in der Krieau. Nylunds zwei Jahre alter Zwergspitz Nalle verbellt zwischendurch den Paketboten und entschlummert dann friedlich, während wir über Wagner, Heller und Staatsoper plaudern.
Ihre Freundin, die Opernsängerin Caroline Merz, hat über Sie zwei Geschichten erzählt, in denen gemeinsame Reisen eine Hauptrolle spielen: Eine handelt von Bettwanzen und die andere von Ihrem finnischen Haus ohne Wasser und mit Plupsklo. Echt?
(Lacht laut auf.) Hat sie? Also, zur ersten Geschichte: Ja, wir sind als junge Studentinnen zu einem Gesangswettbewerb nach Sulmona, Italien, gefahren. Wir haben am Mozarteum zusammen studiert – ich bei Prof. Illés und sie bei Prof. Lazarska. Wir haben uns von Anfang an gemocht. (Lacht.) Lustig, dass Sie mich das mit dem Haus fragen, weil es gerade eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben spielt. Ich komme gerade von dort, ich hatte zwischen dem Europäischen Kulturpreis und der „Walküre“ in Zürich drei Tage Zeit.
Ich habe es von meinen Eltern übernommen und baue es um. Ja, wir haben dort kein Wasser, keinen Strom und ein Plumpsklo. Aber das ist bald Vergangenheit: Jetzt wird Wasser eingeleitet und auch Strom, und dann bekomme ich eine Dusche und auch ein echtes WC. (Lacht.) Aber wissen Sie: Dort ist mein Kraftplatz. Ich vergesse dort alles, bin ganz in mir. Ich muss nur mit meinen Füßen die Erde berühren. Ich glaube, wir Nordländer brauchen solche Orte, an denen man mit der Natur eins ist. Ich habe dort nur gearbeitet und alles andere vergessen.
Wenn ich auf die Liste Ihrer Rollendebüts und Projekte schaue, die Sie rausgehauen haben: Wie machen Sie das?
Das frage ich mich auch. Es gibt ein Wort im Finnischen dafür: sisu*. Googeln Sie es. Das kriegt man als Finne mit der Muttermilch mit. (Lacht.) Es waren zwei wirklich anstrengende Jahre. Zuerst Stillstand. Dann habe ich von jeder Produktion nur eine Aufführung gesungen, und als dann alles wieder möglich war, war ich so ausgehungert nach der Bühne, dass ich alles mitnehmen wollte, was geht. Ich wollte alles nachholen.
Elīna Garanča hat uns einmal von ihrem Plan erzählt, dass sie sich überlegt, was sie wann singen will. Haben Sie auch so etwas?
Oh, das ist aber toll, ich bewundere das. Ich habe überhaupt keinen Plan. Ich gehe los und schaue, was passiert.
Auch bei Ihren Rollendebüts?
Ich habe nie zu einem Intendanten gesagt, dass ich die oder die Rolle singen möchte. In letzter Zeit ist aber mein Wunsch größer geworden, mehr italienisches Repertoire zu singen. Ich singe Wagner und Strauss sehr gerne, aber ich möchte auch eine andere Seite von mir zeigen, und es ist auch gesund für die Stimme. Es ist wirklich unheimlich, wie die Rollen immer zu mir gekommen sind. Ich bin ein Arbeitstier, aber ich habe auch ein Vertrauen in höhere Mächte. Ich bin oft erstaunt, wenn ich auf meine Karriere zurückschaue: Ich komme aus einem kleinen finnischen Dorf, in dem niemand etwas mit Oper am Hut hatte – und jetzt singe ich in den größten Häusern. Man muss eine gewisse innere Ruhe haben, Vertrauen in sich selbst. Und man muss immer gut vorbereitet sein.
Sie arbeiten auch regelmäßig mit Ihrer Gesangslehrerin ...
Ja. Sie ist über 90 Jahre alt und lebt hier in Dresden. Streng, aber wenn ich bei ihr eine Rolle durchsinge, dann weiß ich, dass alles gut wird. Apropos Rollendebüts: Die Ariadne habe ich das erste Mal in Wien gesungen – damals hat Gruberová die Zerbinetta gegeben. Sie hat eine Widmung in meine Noten geschrieben, und wenn ich jetzt meinen Klavierauszug aufschlage, dann sehe ich ihre Widmung, und ich denke mir: Vielleicht schaut sie runter, wo immer sie ist, und ist hoffentlich wohlwollend und freut sich.
Ihr Tosca-Debüt – warum so spät?
Vielleicht war ich nicht bereit, sie zu singen. In meinen Anfängen in Hannover habe ich die Mimi gesungen, die Micaëla, aber ich bin sehr schnell ins deutsche Fach und habe viel Mozart gesungen, das war mein Glück, weil Mozart die Stimme jung hält.
Ist so ein Projekt wie mit André Heller nicht schwierig? Wenn
Sie mit Ihrer vollen Stimme aus dem „Great American Songbook“ singen, dann blasen Sie dort ja alles weg.
Das stimmt, und das habe ich auch sofort verstanden. Ich war damals zwischen den „Tosca“-Aufführungen, und ich musste mich auf meinen Instinkt und auf André Heller verlassen, musste mich verlassen können, dass er mir sagt, was gut ist und was nicht. Er hat bei unserem ORF-III- Hauskonzert offenbar Töne gehört, die ihm gefallen haben, und sich gedacht: Die kann das, die hat mehrere Stimmen. – Man ist ja als Sänger auch ein Papagei. Man muss gut nachmachen können, gut in Sprachen sein, gut zuhören können. Hätte ich diese Talente nicht, hätte ich auch nicht die vielen Debüts machen können.
Wie merkt man sich diese unglaublichen Textmengen? Pavarotti hat ja oft Texte erfunden ...
(Lacht.) Ja, das frage ich mich ehrlich gesagt auch manchmal, wenn es nicht weitergeht. Das Gehirn hat ein unglaubliches Potenzial – es ist ein Wunder. Mir ist ein Rätsel, wie Schauspieler ein Stück lernen. Uns Sänger*innen hilft wenigstens die Musik.
Zurück zum Dorf: Sie sind bereits mit sechs Jahren in der Band des Cousins Ihres Vaters aufgetreten. Wann kam die Oper?
Ich habe mit ABBA begonnen, dann mit fünfzehn als Maria Magdalena in „Jesus Christ Superstar“ debütiert, war ein Fan von Barbra Streisand, habe aber klassische Gesangsstunden genommen. Eigentlich wollte ich Tierärztin werden, aber ich habe so viel Musik gemacht, dass meine Schulnoten dafür nicht gereicht hätten. Im Nachhinein bin ich sehr froh darüber, dass es so gekommen ist. (Lacht.)
Zur Person: Camilla Nylund
Die Sopranistin ist Finnlandschwedin: „Ich bin mit Schwedisch aufgewachsen, fühle mich aber als Finnin.“ 2022 hatte sie ihre Rollendebüts als Tosca, Isolde und Brünnhilde. Ihr „Great American Songbook“- Projekt mit André Heller und dem ORF Radio-Symphonieorchester erscheint im Dezember. Ihre Tochter studiert in Wien Musical.