Der Fall Wozzeck: Psychogramm eines Femizids
Er ist Leiharbeiter, ein Außenseiter. Er wird benutzt und ausgenutzt, und er schlägt dort zu(rück), wo es keiner sieht: zu Hause. Regisseur Simon Stone und Dirigent Philippe Jordan lassen Alban Bergs „Wozzeck“ im Wien der Jetztzeit leiden und morden.
Was bleibt nach einem Femizid, dem Mord an einer Frau? Es bleibt die Tat, und es gibt die alltäglichen Fragen, die sich Kriminalisten stellen müssen: Was ist passiert? Wo ist das passiert? Wie ist das passiert? Und vor allem: Wer war es? Die Tat wird zum Gerichtsakt und zur Schlagzeile in den Medien. Was niemanden mehr interessiert, ist das Leben jener, die ermordet wurden, und auch derer, die es ausgelöscht haben. Nur die Tat ist, was zählt, sagt man. Bei guten stimmt das ja, bei schlechten könnte das Davor helfen, zu verstehen, um weiteres Böses zu verhindern.
Wozzeck ist ein Opfer, das wirkliche Opfer aber ist seine Frau. Femizid ist ein großes Problem in Österreich. Es gehört bei uns zur schrecklichen Normalität, dass Frauen von gedemütigten, ausgenutzten Männern für ihr eigenes Versagen mit ihrem Leben büßen müssen. Daher muss das Stück genau im Jetzt spielen, weil es das Problem jetzt gibt, und es ist für mich keine Frage, dass dieses Werk in Wien spielen wird–weil es eine vertane Chance wäre, wenn man nicht versucht, die Welt zu spiegeln, die man täglich sieht.
Simon Stone, Regisseur
Wir danken! Damit wäre auch geklärt und verraten, wo der derzeit wohl erfolgreichste Bilderzauberer der Theater- und Opernwelt seinen „Wozzeck“, der im März Premiere an der Wiener Staatsoper feiert, spielen lassen wird. Gespräche mit Simon Stone machen Freude. Er redet langsam, überlegt, aber er bringt seine Gedanken rasant auf den Punkt. Man stellt sich vor, dass Simon Stone der Typ am Stammtisch ist, der als Erstes die Faust auf den Tisch knallt und sagt: „So kann es nicht weitergehen.“ Der gleich darauf den Nachsatz folgen lässt:
„So gehört das jetzt gemacht.“
Jetzt gerade gehört „Wozzeck“ fertig gemacht. Am 21. März ist Premiere, und das ist recht wenig Zeit, wenn man ein Stück von dieser Sprach- und Musikgewalt neu erzählen will. Simon Stone: „Das Stück ist ein Psychogramm. Es zeigt die innere Welt eines Menschen, der langsam den Bezug zur Wirklichkeit verliert. Es geht um einen Mann, der, wenn er mehr Geld hätte, Zugang zur richtigen medizinischen Betreuung hätte – aber er lebt an der Grenze zur Armut und an der Grenze zum Irrsinn. Das ist eine Welt, in der man sehr leicht benutzt und auch ausgenutzt werden kann.“
Wozzecks in der U-Bahn
Wir erinnern uns: „Woyzeck“ ist das Drama über einen Soldaten, der die Mutter seines unehelichen Kindes aus Eifersucht und Wahnsinn ermordet. Georg Büchner hat es 1837 geschrieben. Es blieb unvollendet und beruht auf einem echten Fall: Der – schizophrene – Sohn eines Perückenmachers erstach 1821 eine 46-jährige Witwe. Bei einem Gutachten des Gerichts wurde dem Mann aber volle Zurechnungsfähigkeit attestiert, und so wurde der Perückenmachersohn verurteilt und 1824 auf dem Marktplatz in Leipzig hingerichtet. Büchner – Lesen bildet – erfuhr von diesem Fall aus einer Ärztezeitung, die sein Vater abonniert hatte.
Simon Stone lehnt sich im Aufenthaltsraum der Probebühne zurück: „Un- sere Verantwortung ist es, dass wir nicht sagen: Das ist die historische Geschichte eines Mannes, der durch die damaligen Umstände verrückt geworden ist – sondern das ist ein Mann, den wir zufällig in der U-Bahn sehen und von dem wir nicht wissen, was er zu Hause macht. Wir folgen noch immer der Idee vom Mann, der als Oberhaupt die Familie führt und der versagt, wenn er das nicht kann.“
Was Alban Berg zu einem der größten Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts macht, ist seine faszinierende Begabung für die Bühne und sein unglaubliches theatralisches Denken. Er wusste, dass es gerade bei einem damals neuen und für viele vielleicht auch verstörenden musikalischen Vokabular eine präzise Architektur braucht, um die Abgründe des Musikdramas adäquat auszuleuchten und dem Publikum eine Orientierung auf der musikalischen Landkarte zu geben.
Philippe Jordan, Dirigent
Plädoyer für ein neues Männerbild
Man merkt, wir sind an jenem Punkt angelangt, der Stone am meisten beschäftigt, der ihn antreibt bei seinem Zugang zu der Neuinszenierung: „In konservativen Ländern lehrt man uns Männer, dass es schon etwas Besonderes ist, ein Mann zu sein, und dass Frauen völlig anders sind. Dieser Zugang, diese Idee, muss dekonstruiert werden. Wir müssen eine Welt schaffen, in der es echte Gleichberechtigung gibt. Das Schlimme ist, dass die Wozzecks nicht einfach von dieser Welt verschwinden – sondern diese Taten wiederholen sich immer und immer wieder. Oder haben Sie je von einer Frau gehört, die nach einer Entlassung aus Frust ihren Mann ermordet hat?“ Aus dem Gefühl heraus ist man geneigt, mit Nein zu antworten – und die oberflächliche Recherche im Internet bestätigt das.
Die vielen Bilder seiner Seele
Wir bleiben beim Dekonstruieren der Geschichte. Im Original ist Wozzeck ein armer, nicht besonders gebildeter Soldat. „Die Militärsituation ist mir gar nicht so wichtig“, sagt Stone, „viel wichtiger ist das Thema der Unterdrückung. Die Armut wird immer mehr, wir leben in einer Zeit ökonomischer Unsicherheit – der Druck steigt. Ein Wozzeck kann überall sein, das ist nicht auf die Armee beschränkt.“
Wie aber wird Stone diese Allgemeingültigkeit auf der Bühne umsetzen? „Wir werden die Seele von ihm schauen. Ich will, dass das Publikum sieht, was er sieht. Wir werden oft Szenen sehen, die seinen mentalen Zustand reflektieren. Es wird Traum- und Halluzinationsszenen geben, die uns helfen, seinen inneren Zustand zu verstehen.“
Wer ist also Marie? Eine Figur, in der – wie in allen Menschen – das Helle und Dunkle gleichermaßen vorhanden ist, wo aber auch beides tatsächlich gelebt wird. Sie ist Opfer, vor allem der Gesellschaft, die sie umgibt, hat aber ebenso Aspekte einer Täterin. Sie handelt aus einer nachvollziehbaren Schwäche In ihrem kargen Leben wünscht sich Marie einen Moment des Glanzes, der ihr im Tambourmajor, einem Mitglied einer anderen Sozialklasse, erscheint.
Anja Kampe, Sopran/Marie
Alban Berg und seine Musik
Alban Berg hat die Musik und das Drama der Oper sehr strukturiert aufgebaut. Jeder Akt umfasst fünf Szenen, die thematisch zusammengestellt sind. Nehmen wir als Beispiel den ersten Akt: Hier schrieb der Komponist für jede Hauptperson (mit Ausnahme von Wozzeck) ein Charakterstück. Jedem Stück liegt eine eigene musikalische Form zugrunde (1. Suite, 2. Rhapsodie, 3. Marsch/Wiegenlied, 4. Passacaglia, 5. Rondo).
Die Orchestrierung wird durch Instrumente wie Gitarren, Xylofon, Celesta, Ziehharmonika und Rute ergänzt. Alban Berg hat die einzelnen Bilder sehr sparsam instrumentiert, um die Verständlichkeit des Textes zu erhöhen. Das volle Orchester ist vor allem bei den Überleitungen zwischen den Bildern zu hören. Die Anforderungen an die Musiker sind hoch: Der Komponist variiert die Orchesterzusammensetzung in jedem Bild, was den Koordinations- und Probenaufwand hoch hält. Oder, wie es ein Kritiker einst überspitzt formulierte:
„Die Musiker befinden sich während des Stücks auf Wanderschaft.“
Wie sein großes Vorbild Schönberg verwendet er eine Technik aus Sprechen und Singen. Eine Anweisung von Alban Berg an seine Sänger*innen lautete: „Keinesfalls singen! Aber trotzdem ist die Tonhöhe in der Gesangstonhöhe (genau nach den Noten) anzugeben und festzu-halten; Letzteres aber mit Sprechresonanz.“
Stone: „Es soll nicht immer leicht sein“
Übrigens: Der erste Akt soll den Film- komponisten Bernard Herrmann zu sei- nem berühmten Geigen-Gekreische in der Duschszene von Hitchcocks „Psycho“ inspiriert haben – eine Szene, die der Meister des Horrors zuerst völlig ohne Musik in die Kinos bringen wollte.
Aber wir schweifen ab.
Zurück zur Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper, zurück zu Regisseur Simon Stone. Wie will er Menschen überzeugen, die zwar von der Geschichte an sich begeistert sind, aber Berührungsängste zu Alban Bergs atonaler Musik haben? Stone: „Alban Berg hat eine Musik erfunden, die perfekt zu der Geschichte passt. Er hat den psychischen Zustand Wozzecks vertont. Er war ein Pionier einer Musik, die sich nicht so sehr mit sich selbst beschäftigte als mit den Figuren. Es ist eine dramatische und zugleich dramaturgische Musik. Es wäre doch ziemlich unpassend, die Geschichte eines Mörders zu erzählen, der immer verrückter wird, und dazu eine Musik zu spielen, die leicht zu hören ist.“ Da muss jetzt selbst Simon Stone ein wenig grinsen, und er setzt nach: „Es ist doch wichtig, dass es nicht immer leicht ist.“
‚Wozzeck‘ ist vielleicht die perfekte Oper. Wenn ich nun den Wozzeck singe, verspüre ich keine politischen Intentionen, da diese durch das Stück und auch durch die Person Büchners ausreichend vertreten sind, sondern einfach eine unglaubliche Freude an der Perfektion und Schönheit eines Kunstwerks, an diesem zugleich sinnlichen und geistreichen Konstrukt, an der griffigen Sprache, die plakativ erscheinen kann, aber in Wahrheit so substanzreich ist.
Christian Gerhaher, Bariton/Wozzeck
Von der Architektur der Oper
Wie aber sieht es jener Mann, der das Werk dirigieren wird? Philippe Jordan, Musikdirektor der Wiener Staatsoper: „Was Alban Berg zu einem der größten Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts macht, sind seine faszinierende Begabung für die Bühne und sein unglaubliches theatrales Denken.“ All das „nicht nur in Bezug auf die Vertonung eines Textes, sondern auch, was sein Gespür für Aufbau und Struktur anbelangt. Er wusste, dass es gerade bei einem damals neuen und für viele vielleicht auch verstörenden musikalischen Vokabular eine präzise Architektur braucht, um die Abgründe des Musikdramas adäquat auszuleuchten und dem Publikum eine Orientierung auf der musikalischen Landkarte zu geben.
Durch den Rückgriff auf historische Formen – ähnlich wie Benjamin Britten – konnte sich Berg eines formalen Rahmens versichern, den die Zuhörerinnen und Zuhörer vielleicht nicht aufs erste Hören verstanden, aber stets gespürt haben. Gleichzeitig öffnete er mit seinen sensationellen Zwischenspielen Seelenräume, die das Innenleben der Figuren noch deutlicher, ergreifender und eindringlicher offenbaren.“