Im Aufwind durch den Angstmoment
Die BÜHNE hat die Schauspielerin Hanna Hilsdorf am Dach des Burgtheaters getroffen. Die Berlinerin spielt dort ihre erste Saison. Ihre erste Rolle hat sie in George Taboris "Mein Kampf".
Es regt sich kein Lüftchen, und das gefällt Hanna Hilsdorf nicht. Die zierliche Schauspielerin steht am Dach des Burgtheaters und schaut enttäuscht den sogenannten Blasengel an. Dieser grüne Engel dreht sich normalerweise mit dem Wind. Er sitzt am Ende jenes Schachtes, der die verbrauchte Luft aus dem Zuschauerraum ins Freie spuckt. Die Drehung verstärkt die vorhandene Sogwirkung zusätzlich und damit die Belüftung. „Kann man den bewegen?“, fragt die Schauspielerin und wartet die Antwort gar nicht erst ab. Sie stemmt sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die massive Konstruktion und dreht sie mit einem lauten Rattern einmal im Uhrzeigersinn. Hilsdorf lacht, die blonden Haare fallen ihr ins Gesicht. „Jetzt kommt Wind ins Theater!“
Das ist keine Metapher. Seit dieser Spielzeit ist die 27-Jährige Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater. Erst seit wenigen Wochen ist sie in der Stadt. Ihre erste Rolle ist das Gretchen in „Mein Kampf“ unter der Regie des israelischen Regisseurs Itay Tiran. Als göttinnengleiche Gestalt weht Hilsdorf in dieser Inszenierung auf die Bühne des Wiener Theaters.
Am Dach des Burgtheaters mit Hanna Hilsdorf
Die BÜHNE hat Hanna Hilsdorf freigestellt, wo das Interview stattfindet, und Hilsdorf hat sich das Dach des Burgtheaters ausgesucht. Am Lusterboden steigt man eine steile Eisentreppe empor und gelangt durch eine Dachluke ins Freie. Rathaus, Volksgarten, Heldenplatz und die gesamte Wiener Innenstadt schmiegen sich rund um die Kulturstätte. Mehr Wien geht nicht. Hilsdorf setzt sich die Sonnenbrille auf und lässt den Blick über den ersten Bezirk schweifen. „Ich hab hier noch keine Menschen. Daher muss ich mir erst einmal Orte suchen, und dafür brauche ich Überblick“, sagt sie und klettert im nächsten Moment für ein Foto auf den Sims. „Kuck“, beruhigt sie die nervösen Anwesenden, „da ist ja gleich ein Dach drunter, da falle ich nicht tief.“
Akribie versus Angst
Es sei gerade auch dieser „Angstmoment“, den sie im Theater, aber auch in der Musik suche. Vergangenes Jahr ist Hanna Hilsdorf beim Brecht-Festival in Augsburg spontan für eine Kollegin eingesprungen. Mit einer Punkband sang sie Bertolt Brechts Kriegsfibel „wie eine grantige Fee“ – so beschrieb es die „Süddeutsche Zeitung“ euphorisch. „Alles war wahnsinnig mit der heißen Nadel genäht. Da hab ich Feuer gefangen. Ich hatte das Gefühl, dass nichts bisher so viel Sinn gemacht hat“, sagt sie.
Schlägt in so einem Moment nicht die Nervosität den Genuss? „Nein, das ist gut. Man lässt es einfach drauf ankommen und schaut, was passiert, das sind Momente, die man nicht kontrollieren kann.“ Hilsdorf bereitet sich zwar gerne akribisch vor, aber in diesen Momenten des Nervenkitzels entsteht für sie das Lebendige: „Das bedeutet für mich Theater.“
Gefühle, die nicht zum Alltag gehören
Ein Sprung ins kalte Wasser sei auch die Arbeit mit dem deutschen Regisseur und Drehbuchautor Fatih Akin gewesen. In seinem Drama „Aus dem Nichts“ spielte sie eine Neonazi. „Wir haben vorher gar nicht viel besprochen, und ich habe mich auch nicht intensiv auf die Rolle vorbereitet. Ich vertraute auf die Intuition von Fatih, der immer sehr genau weiß, was er will. Das ist toll. Man kann auf den Zug von Fatih einfach aufspringen.“
Der Film gewann 2018 einen Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film. Auf einmal stand Hanna Hilsdorf am roten Teppich mit Weltstar Diane Kruger. Wie ist es, wenn ein Film so durch die Decke geht? „Das ist wie in so einer verbotenen Traumwelt. Dieser Prunk und Glanz und Ruhm, der auf dem roten Teppich klebt, ist so skurril und überzeichnet, das hat dadurch schon auch eine Anziehungskraft. Man will der Sache auf den Grund gehen. Aber ich finde es gleichzeitig abstoßend. Ich nehme das mit einer großen Distanz wahr. Es macht Spaß, das zu schmecken – für einen Abend.“
Die extremen Gefühle – sie sind es auch, die Hilsdorf im Theater reizen: „Das kann befreiend sein. Diese Gefühle zu spüren, die nicht zum Alltag gehören. Es gibt so viele Gefühle, die vergessen sind, die nicht mehr gefühlt werden. Zum Beispiel seit die praktizierte christliche Religion nicht mehr zu unserem Alltag gehört. Im Theater gibt es noch das Heilige, die Hölle, das übermenschlich Große.“
Hanna Hilsdorf über den Mythos Burgtheater
Hilsdorf fragt gerne nach und dreht die Interviewsituation um. Denn noch ist ihr nicht alles klar an Wien. „Warum ist das so, dass das Burgtheater den Wienerinnen und den Wienern so wichtig ist? Weißt du das? Die Schauspieler werden hier ja teilweise wie Popstars behandelt!“ Es folgt ein ungeschickter Exkurs der Interviewerin über Theater, Smalltalk mit dem Taxifahrer und österreichischen Fußball. Hilsdorf nickt geduldig und fasst pointiert zusammen: „Also, es ist wie ein Kleidungsstück, das man sich anzieht. Es ist nicht nur die reine Begeisterung fürs Theater.“
Denn für Hilsdorf selbst war „die Burg nie ein Sehnsuchtsort, sondern sie war für mich immer ein Mythos. Wir werden sehen, ob sich der Ort nun entmystifiziert.“
Wien, es war keine Liebe auf den ersten Blick. „Mein allererster Eindruck? Ich war ehrlich gesagt eher abgeschreckt, im Zentrum ist es so pompös, aber auch steril. Jetzt bin oft mit meinem Fahrrad unterwegs und entdecke sehr viel, was mir gefällt. Mit dem Schauspiel war es im Grunde genauso.“ Wahrscheinlich lande man nicht aus Zufall genau dort, wo es einem zuerst einmal schwerfällt, grübelt Hilsdorf: „Nur so kann man etwas über sich selbst herausfinden – wenn man sich den inneren Widerständen aussetzt.“
Zur Person: Hanna Hilsdorf
Alter: 27 Jahre / Wohnort: Wien
Die Berlinerin spielte schon während des Schauspielstudiums am Deutschen Theater Berlin und an der Volksbühne in mehreren Stücken von Frank Castorf. 2018 arbeitete sie am Schauspielhaus Bochum. Sie ist auch in Kino- und Fernsehproduktionen zu sehen, z. B. in Fatih Akins „Aus dem Nichts“. Mit Beginn der Spielzeit 2020/21 ist sie Mitglied im Ensemble am Burgtheater.