Ich, Ikarus: Wenn Vielfalt die Fantasie beflügelt
„Ich, Ikarus" ist ein Stück für alle ab 9 Jahren, das die Geschichte des Ikarus als Rückblick erzählt. Wir haben mit Mechthild Harnischmacher und Maike Müller über ihre Inszenierung gesprochen.
Es ist vermutlich das Bild eines kleinen Jungen, der zu viel wollte, das den meisten Menschen als allererstes in den Sinn kommt, wenn sie den Namen Ikarus hören. Darüber hinaus vielleicht auch noch Begriffe wie Übermut, Hybris und Größenwahn, wie auch die Vorstellung einer unfreiwilligen und deshalb besonders schmerzhaften Bauchlandung am Boden der Realität. Mit dieser Interpretation des Ikarus-Mythos wollten sich Regisseurin Mechthild Harnischmacher und Dramaturgin Maike Müller bei ihrer Inszenierung des Stückes „Ich, Ikarus“ von Oliver Schmaering jedoch nicht zufriedengeben.
„Durch viele Gespräche sind wir zum Schluss gekommen, dass wir dieser vorherrschenden Rezeption etwas entgegensetzen möchten, das seinen Ursprung ohnehin schon in dem Stücktext von Schmaering, aber auch in unseren eigenen Erfahrungen hat“, erklären die beiden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Lesart, dass Ikarus nach seiner langen Zeit der Isolation keine Grenzen mehr akzeptieren möchte und einfach nur wegwill. „Wenn man so lange ohne Mutter, ohne Freund*innen, nur mit einem übermächtigen Vater eingesperrt war, will man, wenn man dann endlich die Chance dazu hat, einfach frei sein, ohne weiter über Gefahren nachzudenken.“
Der Blick zurück
Der Bezug zur Gegenwart ergab sich für Mechthild Harnischmacher und Maike Müller auch dadurch, dass die Geschichte des Ikarus die Erzählung einer Flucht ist. „Wenn man hört, dass ein Kind über das Mittelmeer flieht, löst das sofort viele Assoziationen aus. Zu Beginn der Handlung ist Ikarus schon abgestürzt. Der Text beginnt also am Meeresboden. Man beginnt unweigerlich darüber nachzudenken, ob er da wirklich alleine ist. Ist er nämlich nicht. Deshalb kann man diese Geschichte auch nicht erzählen, ohne sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.“
Die Monologstruktur von Oliver Schmaerings Theatertext hat das Team rund um „Ich, Ikarus“, das am 14. November im Vestibül Premiere feierte, beibehalten, ihn allerdings auf zwei Spieler*innen aufgeteilt. Sowohl Mariam Avaliani als auch Max Lamperti, beide Studierende am Max Reinhardt Seminar, schlüpfen in die Rolle der mythologischen Figur. Wobei es den einen Ikarus, so Harnischmacher und Müller, in ihrem Stück gar nicht gibt. „Die beiden erzählen ‚ihren‘ Ikarus in vielen Facetten, es gibt keine klaren Zuschreibungen. Das führt auch dazu, dass Ikarus in dieser Inszenierung manchmal kindlich, dann aber auch wieder sehr erwachsen wirkt. Unser Ikarus ist international und kann jedes Alter und jedes Geschlecht haben“, so Harnischmacher und Müller.
Ein Ikarus, der allen gehört
Das Bestreben, Ikarus als Figur darzustellen, die nicht einem bestimmten Kulturkreis (an)gehört, drückt sich in der Inszenierung unter anderem durch Mehrsprachigkeit aus. Mariam Avaliani ist gebürtige Georgierin und wiederholt einige Teile des Textes auf Georgisch. Darüber hinaus haben Spieler*innen des Burgtheaters Passagen auf Türkisch, Ungarisch, Serbisch und Romanes eingesprochen. „Dadurch möchten wir mit der Schönheit von Multilingualismus umgehen und zeigen, wie bereichernd Vielfalt ist: Ikarus gehört uns allen!“
Mehr soll an dieser Stelle aber auch gar nicht verraten werden, denn worauf es bei „Ich, Ikarus“ letztendlich ankommt, ist die eigene Fantasie. „Das Stück mit seiner eigens komponierten, motivreichen Musik (Aki Traar) und seiner ebenso fantasievollen wie minimalistischen Ausstattung (Kostüm: Hisu Park, Bühne: Julia Rosenberger) soll durch seine poetische Bildsprache der Imagination der Zuschauer*innen freien Lauf lassen und nicht zu viel vorgeben“, erklären Harischmacher und Müller im Interview.
Trotzdem wollte Mechthild Harnischmacher auf eine Sache nur ungern verzichten – auf Flügel. Weil die Anfertigung viel zu teuer geworden wäre, griff die Regisseurin in die Trickkiste: „Gemeinsam mit meiner Schwester Germany’s Next Topmodel zu schauen ist ein Guilty Pleasure von mir. Ich habe mich daran erinnert, dass in einer der Shows aus dem letzten Jahr große, weiße Flügel vorkamen und dachte dann, warum nicht einfach mal nachfragen, ob es die noch gibt. Viele Telefonate später und für ein kleines Entgelt hat uns der Sender diese Flügel überlassen.“ Dass die Flügel aus altem Verpackungsmaterial hergestellt wurden, entsprach außerdem dem Recycling- und Nachhaltigkeitsgedanken des Teams rund um „Ich, Ikarus“. Große Teile des Bühnenbilds sind ebenfalls recycelt und besteht aus Bühnenbildteilen von abgespielten Burgtheater-Produktionen.
Ergänzung und Perspektivenwechsel
Eines der schönsten Erlebnisse im Probenprozess war für die beiden die Reaktion der Kinder. „Wir hatten die Möglichkeit, Schulklassen zwischen 9 und 12 in die Endprobendurchläufe einzuladen, und danach mit ihnen über das Erlebte zu sprechen. Wir waren von der Unmittelbarkeit extrem berührt. Die Kinder hatten die ganze Zeit riesige Augen, haben mitgefiebert und mitgetanzt, gerätselt welche Sprachen gesprochen werden und teilweise verstanden, wer aus ihrer Klasse welche der gesprochenen Sprachen versteht. Das war unser Traum.“
Maike Müller und Mechthild Harnischmacher wollen die Kraft des Theaters dazu nutzen, Zuschreibungen aufzuheben, binäre Strukturen zu durchbrechen und politische Diskussionen anzustoßen – und zwar bereits im Theater für junges Publikum.
Das Aufbrechen verkrusteter Strukturen spielt auch in der gemeinsamen Arbeit eine zentrale Rolle. Von den starren Hierarchien und der starken Regie-Zentrierung, die man häufig in Staats- und Stadttheatern vorfindet, haben sie sich bewusst gelöst. Zwar bringt jede*r im Team eine bestimmte Expertise mit, insgesamt geht es, da sind sich die beiden einig, aber immer um Ergänzung und Perspektivenwechsel. „Das erfordert viel mehr Kommunikation, aber wir empfinden es als große Bereicherung!“
Zur Person: Zum Stück: Ich, Ikarus
„Ich, Ikarus" wurde vom Dramatiker und Drehbuchautor Oliver Schmaering geschrieben und 2019 für den Mülheimer KinderStückePreis nominiert.