Iphigenia: Antike trifft Großbürgertum
Ewelina Marciniak verpflanzt ihre von Euripides und Goethe inspirierte Iphigenie ins heutige Großbürgertum. Dort wuchern patriarchale Machtstrukturen, die sie immer wieder in die Opferrolle drängen. Die Koproduktion mit dem Thalia Theater versucht diese zu dekonstruieren.
Agamemnon, Ethikprofessor mit Vorliebe für die großen Fragen des Lebens, möchte nicht, dass die Öffentlichkeit von der Vergewaltigung seiner Tochter durch deren Onkel erfährt. Nicht etwa, um seine Tochter zu schützen, sondern weil er um seine Reputation fürchtet. Er verschleiert die Tat. „Iphigenia“, eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Thalia Theater, operiert zwar mit den von Euripides und Goethe bekannten Namen, spielt aber im Heute. Verrat, Missbrauch, weibliche Opferung und Selbstsucht finden bei Autorin Joanna Bednarczyk und Regisseurin Ewelina Marciniak in einem in der Gegenwart verorteten großbürgerlichen Familienkosmos statt.
Mir ist immer auch die weibliche Perspektive und die Auseinandersetzung mit denjenigen wichtig, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind.
Ewelina Marciniak
Konstanten, die bis ins antike Griechenland zurückreichen, gibt es dennoch. „Ich habe großes Interesse daran, klassische Dramenstoffe umzuschreiben“, sagt die Regisseurin. Dabei stellt sie häufig feministische Diskurse und Fragestellungen in den Mittelpunkt. „Auch aus archetypischen Stoffen lassen sich zeitgenössische Geschichten erzählen, man kann sie neu interpretieren. Wir finden darin gewisse Klischees und Muster, meine Aufgabe ist es dann, diese zu dekonstruieren“, so Marciniak im Interview mit Bettina Hering, Schauspieldirektorin bei den Salzburger Festspielen.
„Schau mich an! Wer bin ich?“
In ihrer Arbeit lässt sie sich gerne von jenen Dingen leiten, die sie umgeben. „Ich beobachte Menschen um mich herum und die vielfältigen politischen Situationen. Mir ist immer auch die weibliche Perspektive und die Auseinandersetzung mit denjenigen wichtig, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Dabei greife ich gerne auf einen historischen Kontext zurück, um diesen mit der Gegenwart zu kombinieren. Das macht es dann auch einfacher fürs Publikum“, erklärt Marciniak. „Iphigenia“ ist ihre erste Arbeit in Österreich.
Für ihre Dramatisierung des Romans „Der Boxer“, die 2019 am Hamburger Thalia Theater Premiere feierte, erhielt die 1984 in Polen geborene Regisseurin den renommierten deutschen Theaterpreis „Der Faust“. Mit ihrer Inszenierung der „Jungfrau von Orléans“ wurde sie zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen. „Schau mich an! Wer bin ich?“, fragt die Hauptfigur in Marciniaks moderner Überschreibung. Und fordert gleichzeitig: „Kommt mal klar mit euren Narrativen.“
Um Selbstbestimmung und Selbstermächtigung geht es auch in „Iphigenia“. Ewelina Marciniak hat ihre Iphigenie deshalb in ein junges und ein sich erinnerndes älteres Selbst aufgespalten. Auf diese Weise ergaben sich für die Regisseurin fast schon automatisch Fragen wie: „Kann sie die Traumata der Vergangenheit bewältigen? Gibt es für sie die Möglichkeit eines Neuanfangs?“
Gespaltene Iphigenie
Ihre beiden Iphigenies fand sie in Oda und Rosa Thormeyer, Mutter und Tochter – und beide am Thalia Theater engagiert. „Da gibt es das Selbst der jungen Tochter, die sich immer so verhalten will, wie es der Vater von ihr verlangt, und das Selbst der älteren Frau, die im Dialog mit ihrem jüngeren Ich reflektiert, was mit ihr und den Menschen um sie herum passiert ist“, erklärt Emilia Heinrich, die Dramaturgin des Stücks. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Standort innerhalb der Gesellschaft findet bei Ewelina Marciniak auch auf körperlicher Ebene statt. „Da ist viel Improvisation dabei“, ergänzt die Regisseurin. „Wir greifen auf die Fantasie der Schauspieler zurück. Mit Hilfe entstehender Gesten schaffen wir körperliche Strukturen und Ausdrucksformen“.
Politisch ist für sie an Theater alles. „Man darf nicht davor zurückschrecken, den eigenen Standpunkt darzustellen. Für mich ist es wichtig, gegen Marginalisierung, für Toleranz und weibliche Werte zu kämpfen“, fasst sie ihren Standpunkt zusammen. In Polen drohte man ihr für diese Herangehensweise bereits mit Zensur: Als Marciniak 2015 in ihrer Inszenierung von Elfriede Jelineks „Der Tod und das Mädchen“ zwei Pornodarsteller*innen auftreten lassen wollte, kam es zu heftigen Gegenreaktionen. Die allerdings erfolglos blieben.