Wer 2020 ganz neu durchstarten, also noch einmal richtig von vorn beginnen möchte, löscht seinen Facebook-Account. Vielleicht auch Insta­gram und Twitter, je nachdem, wie stark verhärtet die Fronten zwischen einem selbst und dem Leben, das man bisher geführt hat, schon sind. Der Kauf einer neuen Couch könnte ebenfalls erwogen werden, vielleicht auch ein Umzug, möglicherweise sogar ein Job­wechsel. Dafür muss der Disput aber schon einem Kleinkrieg ähneln. Mit erheblichen Zugewinnen für die gute alte Schimpfwortkassa.

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Altes Leben endgültig überwinden

Doch der Selbstfindungsprozess, der in Wahrheit gar keiner ist, weil man sich zwar ein bisschen verloren hat, diese alte, abgetragene Version von einem selbst aber ohnehin nicht mehr finden möchte, ist unglaublich anstrengend. Es sei denn, man ist Eva, eine der drei Haupt­figuren aus Anna ­Gmeyners Stück „Automaten­büfett“, die nach einem missglückten Selbstmordversuch ihr altes Leben endgültig überwinden möchte, um sich im Mikrokosmos eines von unzähligen Stereotypen heimgesuchten Automatenbüffets neu zu erfinden.

Oder man ist Schauspielerin oder Schauspieler und hat das ständige Ausprobieren neuer Varianten der eigenen Persönlichkeit zum Beruf gemacht. So stellt man es sich jedenfalls vor. Der vielfach ausgezeichnete Schauspieler Michael Maertens spielt im „Automatenbüfett“, das am 30. Oktober im Akademietheater Premiere feiert, Herrn Adam, jenen Mann, der Eva vor dem Tod rettet und ihr damit den vermeint­lichen Neubeginn überhaupt erst ermöglicht.

Auch wenn es sich im ersten Moment paradox anhört, ist die Bühne ein Ort des Versteckens. Und der Beruf des Schauspielers eine Form der Selbstverleugnung und des Weglaufens vor sich selbst.

Michael Maertens

Er sieht die Angelegenheit etwas differenzierter: „Ich kenne die Sehnsucht danach, einfach neu anfangen zu können, sehr gut. Auch wenn es sich im ersten Moment paradox anhört, ist die Bühne ein Ort des Versteckens. Und der Beruf des Schauspielers eine Form der Selbstverleugnung und des Weglaufens vor sich selbst.“

Letztlich ist die Vergangenheit aber ­meistens ohne Rücksicht auf Verluste auf dem Beschleunigungsstreifen unterwegs – und holt einen schneller wieder ein, als man „Tabula rasa“ buchstabieren kann. Im „Automatenbüfett“ tritt sie unter anderem in der Figur eines dichtenden Staubsaugervertreters auf, also mit großer Widersprüchlichkeit bei gleichzeitig ungemeiner Anziehungskraft. 

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M&M in Bildern: Maria und Michael und die Faszination des Augenblicks. Die beiden Publikumslieblinge sind aktuell in zwei Stücken gemeinsam zu sehen. Als Schauspieler, die einander vertrauen, haben sie dabei ihren Figuren einiges voraus.

Maria Happel leitet Max Reinhardt Seminar

Auf der Bühne sind es unter anderem bestimmte Erwartungshaltungen seitens des Publikums, die den Neubeginn erheblich erschweren können. Als Publikumslieblinge kennen Michael Maertens und Maria Happel, in der Neuinszenierung des kaum gespielten Volksstücks von Anna Gmeyner als Adams Ehefrau zu sehen, den Umgang mit bestimmten Schablonen sehr gut.

„Als ich in Wien engagiert wurde, war mein größtes Glück, dass mich Claus Peymann nie als Piaf gesehen hatte. Er hat mich als Schauspielerin engagiert und nicht als Verkörperung der Édith Piaf. Überall sonst, wo ich zu dieser Zeit hinkam, war das anders“, sagt die Schauspielerin und neue Leiterin des Max Reinhardt Seminars, die ihre Beziehung zum Wiener Publikum sehr schätzt.

Immer wieder bei Null anfangen

Mit all den Höhen und Tiefen, die ein Beziehungsleben nun einmal ausmachen. „Ich glaube, dass jeder Schauspieler, der sich über eine längere Zeit an einem Ort aufhält, dieses Gefühl kennt“, fügt Michael Maertens hinzu. Wer sich seinen Lebenslauf ansieht, wird sehr schnell erkennen, dass der vielbeschäftigte Schauspieler eine Zeitlang alle zwei Jahre woanders hinge­zogen ist.

Manchmal mache ich mir schon Gedanken darüber, dass sich die Zuseher so Dinge wie ‚Ach Gott, der schon wieder‘ denken könnten."

Michael Maertens

„Sobald ich mich an einem bestimmten Ort ertappt gefühlt habe, wollte ich abhauen und schon wieder woandershin“, hält er mit ruhiger Stimme fest. Und setzt schmunzelnd nach: „Manchmal mache ich mir schon Gedanken darüber, dass sich die Zuseher so Dinge wie ‚Ach Gott, der schon wieder‘ denken könnten. Zugleich ist es aber so, dass wir bei ­jeder neuen Rolle immer von null anfangen, immer das Gefühl haben, wir können nichts, und uns fragen, ob wir den Beruf schon jemals ausgeführt haben. Bis man mit allem Mut in die Premiere geht und es einfach tut. Dann machen solche Gedanken gar keinen Sinn mehr.“

Rendezvous im Café Zartl. Im legendären Kaffeehaus in Wien-Landstraße tasten sich Happel und Maertens noch vor Probenbeginn an das Stück „Automatenbüfett“ heran.

Foto: Philipp Horak

Parallelen zwischen Theater und Verein

Die Sehnsucht nach Neubeginn ist jedoch nicht die einzige thematische Säule, auf die sich das 1932 uraufgeführte „Automatenbüfett“ stützt. Und weil Michael Maertens und Maria Happel das Stück vor dem ersten Lesen für die anstehende Neuinszenierung am Akademietheater nicht kannten, ist unser Gespräch auch ein gemeinsames Herantasten an das Stück. An das Thema des klassischen Vereinswesens zum Beispiel, dem im „Automatenbüfett“ eine verbindende Funktion zukommt. Formal, aber auch inhaltlich.

Deshalb kommen im Laufe des Gesprächs auch die Vereinsbiografien von Michael Maer­tens und Maria Happel zur Sprache. „Weil ich aus einem kleinen Dorf komme, war ich darauf angewiesen, in einem Verein zu sein, um abends weg­gehen zu können. Dementsprechend war ich im Tischtennisverein, im Gesangsverein und in vielen anderen Vereinen“, erinnert sich Maria Happel. Das Vergeben von Rollen innerhalb einer eingeschworenen Gemeinschaft eint das Vereins­wesen, trotz vieler negativer Zuschreibungen, mit dem Theater.

Pingpong und Familienfest

Ganz unabhängig von den persönlichen Vereinsgeschichten freuen sich Michael Maertens und Maria Happel schon sehr darauf, wieder mit einem großen ­Ensemble spielen zu dürfen. „Ich habe den Beruf auch ergriffen, weil ich gerne Gesellschaft mag. Je größer die Gesellschaft, desto unterhaltsamer“, so Maertens. „Wie beim Familienfest“, ergänzt Maria Happel lachend.

Sehr viel intimer als im „Automatenbüfett“ geht es hingegen im Stück „Die Stühle“ zu, in dem Maertens und Happel auch in dieser Spielzeit wieder als „Der Alte“ und „Die Alte“ zu sehen sein werden. „­Natürlich ist das konzentrierte Arbeiten zu zweit auch toll. Das hat was von Tennis oder Pingpong, vor allem mit einer tollen Partnerin wie Maria, auf die ich mich hundertprozentig verlassen kann.“

Im Punkt des gegenseitigen Vertrauens haben die beiden ihren fiktiven Figuren, dem Ehepaar Adam, auf jeden Fall einiges voraus. So viel ist jetzt schon klar.

Automatenbüfett in 5 Sätzen

1. Anna Gmey­ner übersiedelte 1930 von Wien nach Berlin, arbeitete als Drama­turgin bei Erwin Piscator.
2. Ihr Stück „Automaten­büfett“ wurde 1932 in Hamburg urauf­geführt.
3. Es zählt zum Genre des Neuen Volksstücks.
4. Figuren sind Opfer und Täter zugleich.
5. Es geht um Stereotype einer klein­bürgerlichen Gesellschaft.

Zur Person: Maria Happel

Alter: 58 Jahre
Wohnort: Wien
Neue Aufgabe: Seit Mai 2020 ist sie Leiterin des Max Reinhardt Seminars.
Bevor Claus Peymann sie 1991 nach Wien holte, spielte sie in Bremen die Édith Piaf. Im Jahr 2000 folgte sie Peymann zunächst nach Berlin, ehe sie 2002/03 ans Burgtheater zurückkehrte. 2016 erhielt Maria Happel den Nestroy-Publikumspreis.

Zur Person: Michael Maertens

Alter: 56 Jahre 
Wohnort: Wien 
Ausbildung: In Hamburg ­aufgewachsen, absolvierte er seine Schauspiel­ausbildung in München. Danach spielte er an meh­reren Häusern parallel, ehe er 2001 eine feste Stelle in ­Bochum übernahm. Seit 2009/10 ist er Ensemble­mitglied am Burgtheater.

Termine und Karten: Automatenbüfett

Premiere: 30.10.2020

Weiterlesen: Maria Happel: „Theater ist ein Elementartrieb“