Vom Feinmechaniker zum Zaren: Albert Pesendorfers Debüt als Boris Godunow
Albert Pesendorfer war ein Spätberufener. Erst auf Umwegen gelangte er auf die Opernbühne. Nun gibt er alsBoris Godunow an der Volksoper in der konzertanten Fassung sein Rollendebüt.
„Boris Godunow“ und Albert Pesendorfer sind gebrannte Kinder. Schon für Frühjahr 2020 war die Premiere des Mussorgski-Werks angesetzt – und fiel wegen des ersten Lockdowns ins Wasser. Als das Interview mit dem Bass Ende November stattfindet, ist Pesendorfer kurz davor, aus Berlin, wo er gerade an der Deutschen Oper in „Götterdämmerung“ singt, nach Wien zu reisen, um endlich mit Regisseur Peter Konwitschny und Dirigent Jac van Steen die Proben zu starten.
Kurz vor Redaktionsschluss wurde jedoch verkündet, dass die Aufführung konzertant statt szenisch stattfinden werde. Pesendorfer hatte sich beim Gespräch sowieso noch als „eher unbedarft, was die szenische Umsetzung betrifft“, bezeichnet. „Ich ziehe es generell vor, relativ jungfräulich die Proben zu starten. Wenn man sich zu sehr vorbereitet, wird man meist vom Regisseur oder vom Stück eines Besseren belehrt“, sagt er mit einem Augenzwinkern.
Innere Zerrissenheit
Was Pesendorfer aber sehr wohl vorab machte, war, sich mit der historischen Persönlichkeit des Boris Godunow zu beschäftigen. Das reale Vorbild für Modest Mussorgskis Oper war von 1584 bis 1598 erst Regent für den geistig zurückgebliebenen russischen Zarensohn Fjodor, später ließ sich der echte Boris Godunow von der Volksvertretung wählen und zum Zaren krönen. Seine Herrschaft baute aber auf dem mysteriösen Tod des zweiten Zarensohnes Dimitri, des rechtmäßigen Thronerben, auf. Die Oper dreht sich einerseits darum, dass ein junger Geistlicher, der sich als Dimitri ausgibt, Boris’ Herrschaft gefährdet – andererseits um den Gewissenskonflikt von Boris selbst, der ihn schließlich in den Wahnsinn und den Tod treibt.
Mussorgski schuf seine Oper auf Basis von Alexander Puschkins literarischer Verarbeitung des realen Stoffs. Nach Mussorgskis Tod überarbeiteten Nikolai Rimski-Korsakow und Dmitri Schostakowitsch die Oper, heute kommt man aber wieder mehr auf die Originalfassung von 1869 zurück – so auch an der Volksoper.
Das Stück hat für Pesendorfer bei aller Verankerung in der Historie auch einen Zusammenhang mit der Gegenwart: „Das gibt es ja heutzutage oft, dass Menschen zu Herrschern gemacht werden, zu deren Persönlichkeit das gar nicht passt. Doch die innere Zerrissenheit zu überdecken, das lässt sich nur eine gewisse Zeit schaffen. Und wenn ein Herrscher Schwächen zeigt, dann werden diese auch von anderen gnadenlos aufgezeigt und ausgenutzt.“ Auch Boris „fühlt sich immer mehr persönlich bedroht. Wenn man hinter jeder Person eine Intrige vermuten muss, macht einen das fertig.“
In die Karriere „reingeschlittert“
Pesendorfer ist ein Spätberufener. Einst machte der gebürtige Oberösterreicher eine Lehre als Feinmechaniker, danach studierte er Querflöte, um Lehrer zu werden. Noch später kam der Gesang dazu – noch immer mit der Intention, zu unterrichten. Dann dockte er doch beim Chor der Wiener Staatsoper an, „wo ich oft auf der Seitenbühne stand und großen Sängern, vor allem den Bässen, zugeschaut habe. Ich habe immer schon bewundert, wie sie wie Sportler auf den Punkt ihre Leistung abrufen können.“
Damals hätte er sich nie gedacht, selbst einmal ganz vorn zu stehen. Doch mit 35 Jahren schlug er jenen Weg ein, der ihm große internationale Erfolge bescherte: den als Solist. „Ich bin da reingeschlittert“, sagt Pesendorfer heute. „Wenn man einmal drin war, ergab eins das Nächste.“
Meilensteine waren sein erster Hans Sachs in Innsbruck unter seiner Förderin Brigitte Fassbaender, die Partie des Ochs von Lerchenau im „Rosenkavalier“, die er in 13 verschiedenen Inszenierungen und erst im Juni auch an der Wiener Staatsoper sang, Sarastro in „Die Zauberflöte“, Großinquisitor in „Don Carlo“ sowie das gesamte Wagner-Repertoire seines Fachs – wobei der Hagen, den er von Wien bis Tokio, von Bayreuth bis Berlin verkörperte, zu einer besonders zentralen Rolle für ihn wurde.
Und nun also ein Rollendebüt, auf das er sich ganz außerordentlich freut: Boris Godunow. „Auch wenn ich schon so viele Partien gesungen habe, ist eine neue Rolle doch eine besonders spannende Aufgabe.“
Es geht mir um eine glaubwürdige Darstellung, die sich um ehrliche Empfindungen dreht. Das Wichtigste ist, dass man sich ganz in den Charakter hineinversetzt.
Albert Pesendorfer
Schnelle Wechsel, rasante Kurven
Was der Sängerberuf mit seiner ganz ursprünglich erlernten Profession des Feinmechanikers gemeinsam hat? „Natürlich ist hier wie dort eine gewisse Technik nötig“, sagt Pesendorfer. Seiner Stimme tue die Rolle des Boris hörbar gut. „Die Partie liegt ja relativ hoch für einen Bass – wie auch der Hans Sachs, den ich zuletzt öfter gesungen habe. Spannend macht die Interpretation des Boris die Tatsache, dass sie sich in kürzester Zeit zu höchster Intensität hochschraubt und dass man darauf gefasst sein muss, emotional schnelle Wechsel und rasante Kurven zu bringen.“
Selbst wenn er noch vor Probenbeginn mit uns spricht, ist für ihn ganz klar, was er in seiner Darstellung des Herrschers hervorstreichen will: „Es geht mir um eine glaubwürdige Darstellung, die sich um ehrliche Empfindungen dreht. Das Wichtigste ist, dass man sich ganz in den Charakter hineinversetzt.“
Ob das bei einer Figur wie Boris schwieriger ist als bei anderen? „Ja, denn er ist so vielschichtig. Die Ausbrüche, in denen er Gewalt androht, und dann wieder das Verletzliche: Das macht diese Partie so besonders herausfordernd und faszinierend zugleich.“
Zur Person: Albert Pesendorfer
Der Oberösterreicher, der zuerst eine Mechanikerlehre machte, Querflötenlehrer werden wollte und im Chor begann, singt heute an Häusern wie der Wiener Staatsoper, dem Opernhaus Zürich, dem Teatro Real in Madrid, der Opéra de Monte-Carlo und vielen mehr. Zuletzt war er als Großinquisitor in „Don Carlo“ sowie als Hagen in der „Götterdämmerung“ an der Deutschen Oper Berlin besetzt.