Quo vadis, Don Giovanni?
Die Oper aller Opern wird neu inszeniert. Es ist eine Suche nach dem Witz der Geschichte. Regisseur Barrie Kosky und Dirigent Philippe Jordan nehmen uns mit auf eine Reise zum Kern des Meisterwerks.
Die Bühne ist wie eine Lavalandschaft gestaltet. Schwarz. Sehr einfach. Sie verläuft in einer leichten Steigung vom Bühnenrand nach hinten. Selbst der Souffleurkasten sieht aus wie ein Lava-Überbleibsel. Über der gestockten Gesteinsmasse hängen Pflanzen. Es sind Öffnungen im Boden zu sehen. Eine hätte in ein Wasserbassin unter der Bühne führen sollen. Die Idee wurde jedoch verworfen. Der Sänger hätte im Neoprenanzug und mit Schnorchel darin ewig ausharren müssen. „Unzumutbar“, wie Direktor Bogdan Roščić grinsend erzählt. Mehr will Roščić nicht verraten. Nur dass es einige „Überraschungen“ geben wird. Ansonsten alles streng geheim in dem Stück über den größten Verführer der Opern- und Literaturgeschichte.
Don Giovanni, die erotisch-manische Naturgewalt, die jeder Frau spiegelt, was sie haben möchte, nur um sie zu kriegen. Ach ja, und da ist auch noch sein Diener Leporello, der genau Buch führt über die Affären. 2.063 Frauen soll Don Giovanni geliebt haben, 1.003 in Spanien, 640 in Italien, 230 in Deutschland, 100 in Frankreich und 90 in Persien. Die heimische Chat-Affäre ein Lercherl im Vergleich zu dieser Mitschrift.
Don Giovanni – muss er nicht in die Hölle?
Denn Don Giovanni kriegt sie alle: Donna Anna, die Tochter des Komturs, den er im Kampf tötet. Donna Elvira, die zwischen Liebe und Hass hin- und hergerissen wird. Zerlina, das Mädchen vom Land, das den sozialen Aufstieg will.
Don Giovanni ist wie ein Kind auf erotischem ADHS, das jedes weibliche Wesen erobern möchte, in das er glaubt, gerade verliebt zu sein. Sein Trick: Alle glauben, er liebe nur sie. Irgendwann dann verschlingen die Flammen der Hölle Don Giovanni. Bislang war das zumindest so. Offenbar – wie wir in Erfahrung bringen konnten – dürfte das Finale in Wien ein wenig anders kommen. Es wäre Don Giovanni zu wünschen – und typisch Barrie Kosky.
Am 5. Dezember startet mit der Neuinszenierung des Don Giovanni die Wiener Staatsoper ihren Mozart-Da-Ponte-Zyklus. Philippe Jordan, der Musikdirektor, wird dirigieren und Barrie Kosky die Regie führen.
Zu Besuch bei den geheimen Proben
Was also tun, wenn die Inszenierung noch unter Verschluss ist? Das, wofür wir bezahlt werden. Recherchieren und dorthin gehen, wo (Sie verzeihen das schlechte Wortspiel) die Musik spielt beziehungsweise gerade das neue Meisterwerk entsteht: in die Probebühne der Wiener Staatsoper im Objekt 19 des Arsenals im dritten Bezirk in Wien. 800 Quadratmeter stehen dort zur Verfügung – inklusive einer Bühne, die exakt jenen Maßen ihrer Schwester in der Wiener Staatsoper entspricht.
Genau gegenüber des Bühnenbilds mehrere Tische, die man aus Schulklassen kennt. Dahinter Pinnwände, auf denen jede Szene auf DIN-A4-Blättern aufgezeichnet ist. So funktional und unglamourös ist das Umfeld, in dem die Oper aller Opern neu aufgesetzt wird.
Lorenzo Da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart haben sie geschrieben. Ein Duo wie John Lennon und Paul McCartney oder Paul Simon und Art Garfunkel – ebenso genial und emotional in der Zusammenarbeit. Und immer am letzten Drücker:
So soll die Niederschrift der Ouvertüre erst in der Nacht vor der Uraufführung zu Papier gebracht worden sein, dann wurden die Orchesterstimmen kopiert und den Orchestermusikern noch feucht auf die Pulte gelegt. Mozarts Premieren-Resümee: „Da sind offenbar ein paar Noten unter die Pulte gefallen.“
5.000 (!) „Don Giovanni“-Bücher
„Don Giovanni“ wurde nach der „Hochzeit des Figaro“ für die Oper in Prag geschrieben. Der damals 31-jährige Mozart leitete die Uraufführung im Oktober 1787 selbst. Und es ist – flapsig formuliert – die genialste und erfolgreichste Bearbeitung eines alten Stoffes: Geschaffen hat ihn der Mercedarier-Mönch Gabriel Téllez alias Tirso de Molina, und er wurde in rund 460 Werken und 5.000 Büchern aufgearbeitet und weiterentwickelt.
Der Don-Juan-Hype war enorm: Allein zwischen 1776 und 1787 entstanden sieben Don-Juan-Opern, davon die letzte im Jänner 1787 in Venedig. Auf diesem Werk baut Lorenzo Da Ponte auf, entlehnte ihm den dramaturgischen Aufbau und machte ihn schneller, witziger und brillanter. Mit Erfolg: Es wurde jener Hit, der in der breiten Öffentlichkeit überlebte und seit damals hunderte Male neu interpretiert und inszeniert wurde.
Was also, fragt der satte Fan, soll da noch Neues kommen? Wie wollen Philippe Jordan und Barrie Kosky da noch etwas drauflegen? Offenbar, indem man sich nochmals intensiv mit dem Text und den wahren Intentionen der Schöpfer auseinandergesetzt hat.
Zur Person: Das Stück: Don Giovanni
Don Giovanni verführt alle: Donna Anna, die Tochter des Komturs, den er im Zweikampf tötet. Donna Elvira, die zwischen Liebe und Hass hin- und hergerissen wird. Zerlina, ein junges Bauernmädchen. Und auch seinen Diener Leporello. Don Giovanni verkörpert eine Naturgewalt ohne Moral. Don Giovannis Gegenspieler ist der Komtur, der Inbegriff von Sitte und Gerechtigkeit.
Philippe Jordan: „Weniger ist mehr“
Dirigent Philippe Jordan: „Für mich persönlich liegt die Wahrheit in Mozart selbst. An diese Basis kehre ich immer wieder zurück, lese den Text genau, verzichte auf große hinzugefügte Verzierungen, Appoggiaturen, Manierismen. Man darf ja nicht vergessen, dass die Emotionen bei Mozart sehr pur, direkt und unverstellt sind – je weniger man also hinzufügt, desto lebendiger sprechen sie von der Bühne zu uns. Kurzum: Weniger ist mehr.“
Und dieses Weniger, das zum Mehr werden soll, wurde bereits bei der Besetzung der beiden Hauptdarsteller umgesetzt. Oder, wie es Staatsoperndirektor Bogdan Roščić formuliert: „Oftmals wurde ‚Don Giovanni‘ nach dem Starprinzip besetzt, aber das braucht es nicht.“
Der amerikanische Bassbariton Kyle Ketelsen wird den Don Giovanni singen, der kanadische Bassbariton Philippe Sly den Leporello. Zwei Protagonisten einer völlig neuen Generation von Opernsängern: unkompliziert, witzig, durchtrainiert und mit fantastischen Stimmen ausgestattet. Und sie sind, wie Hanna-Elisabeth Müller (Donna Anna), Kate Lindsey (Donna Elvira) und Patricia Nolz (Zerlina), auch höchst talentierte Schauspieler.
Kyle Ketelsen: „Barrie Kosky hat erst vor ein paar Tagen gesagt, warum er uns ausgewählt hat: aus der Sicht eines Theatermachers. Er arbeitet mit uns, als wären wir Schauspieler. Das ist sehr erfrischend für uns. Wir lieben, dass er uns so viel Freiraum lässt.“ Wie unglaublich Ketelsen und Sly bereits aufeinander eingespielt sind, zeigen sie beim BÜHNE-Shooting, an dessen Ende sie ein berühmtes Foto von Trash-Ikone Kim Kardashian und Kanye West nachstellen.
Zur Person: Kyle Ketelsen
Der amerikanische Bassbariton wurde in Clinton, Iowa, geboren. Wie Sly hat er sowohl den Don Giovanni als auch den Leporello gesungen.In Wien ist er Don Giovanni. Ketelsen lebt mit seiner Familie in Wisconsin.
Kosky: „Es ist ein Vater-Sohn-Konflikt“
Ein Humor, der Mozart und Da Ponte sicher entzückt hätte. Ein Witz und eine Leichtigkeit, die in vielen vergangenen „Don Giovanni“-Inszenierungen verloren gegangen sind. Und damit wären wir bei Regisseur Barrie Kosky, einem Meister beider Kunstklassen: „Es wurde über Don Giovanni viel zu viel geurteilt. Mozart macht es wie Shakespeare: Er urteilt nicht. Er lässt das Publikum entscheiden.
In diesem Werk ist unmöglich zu sagen, was Tragödie ist und was Komödie, worüber wir lachen und was uns mit Entsetzen erfüllen soll. In den meisten Szenen kann man Witziges und Furchtbares kaum voneinander trennen. Lachen und Schreien hört sich oft gleich an. Nichts ist, was es zu sein scheint. Ist Don Giovanni wirklich ein Mörder, oder hat er die Tat nur zufällig begangen? Er ist ein Verführer. Don Giovanni hat keine Moral und keine ethischen Grundsätze. Ja, er hat eine melancholische Seite, aber da ist auch diese unfassbare Lebenslust. Für mich ist er wie Dionysos.“
Dionysos, der Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase. Mit ein wenig Fantasie und in Kenntnis von Koskys Werk kann man sich vorstellen, was für ein hysterischer Exzess daraus entstehen wird.
Zur Person: Barrie Kosky
Der deutsch-australische Regisseur ist in Wien kein Unbekannter. Von 2001 bis 2005 war er Co-Direktor des Schauspielhauses. Danach startete er eine international erfolgreiche Karriere als Opernregisseur. Kosky ist Intendant der Komischen Oper in Berlin und wird mit Jordan den Da-Ponte-Zyklus erarbeiten.
Und wie interpretiert er das Verhältnis von Don Giovanni und Leporello, oft als Yin und Yang dargestellt? Barrie Kosky grinst: „Es sind nicht nur zwei Clowns, die darauf warten, dass shit happens. Es ist eine Vater-Sohn-Beziehung, voller Eifersüchteleien, Liebe und Hass. Ich habe genug Doppelgänger-Inszenierungen gesehen, das interessiert mich nicht. Leporello ist kein Doppelgänger: Er möchte Don Giovanni sein, lieben, verlassen, vernichten. Darum geht es.“ Klingt plausibel, wenn man bedenkt, wie sehr Wolfgang Amadeus seinem Vater Leopold in Liebe und Hass verbunden war.
Wir verabschieden uns. Kosky muss proben. Der Inszenierungszug fährt weiter, und wir sind gespannt, was vom Erzählten tatsächlich zur Premiere kommt.
Zur Person: Philippe Sly
Der Bassbariton wurde in Ottawa, Kanada, geboren. Er hat sowohl den Don Giovanni (beim Aix-en-Provence-Festival) als auch den Leporello (an der Pariser Oper) gesungen.
In Wien wird er wieder als Leporello zu sehen sein.