Die Poesie der Technik in Miss Saigon
Was in der Barockoper einst für Erstaunen im Publikum sorgte, gehört beim Musical von heute schon zum guten Ton: Theaterdonner in höchster technischer Ausführung. Ein Blick hinter die Kulissen des Musicals „Miss Saigon“ im Wiener Raimund Theater.
Es ist wohl der berühmteste Schrei in der Geschichte des Musicals, wenn der tonnenschwere Kristallluster in der Pariser Oper in den Zuschauerraum kracht und damit das Publikum in Angst und Schrecken versetzt. Seit 36 Jahren ein Bühnentrick mit großer Wirkung und ein Meilenstein in der Geschichte des modernen Musicals. Und heute? „Vampire“, die durch die Luft fliegen, Spiegel, die wolkengleich um „Elisabeth“ schweben, oder eben ein echter Hubschrauber, der auf einer Bühne landet – Musical als beeindruckendes, hoch technisiertes Gesamterlebnis.
Szenenwechsel: Langsam schwingt sich die Musik zu einem weiteren Höhepunkt auf, schon von weitem hört man das typische Rattern eines Hubschraubers. Noch ein Crescendo – und da ist er. Der berühmte Hubschrauber aus „Miss Saigon“. Langsam setzt das tonnenschwere Ungetüm auf der Bühne des Wiener Raimund Theaters zur Landung an. Dramatik und Spannung vom Feinsten. Die perfekte Mischung aus Musik, Gesang mit modernster Bühnentechnik hat wieder einmal funktioniert. Spontaner Szenenapplaus, Begeisterung und Staunen im Zuschauerraum.
Gut behütetes Geheimnis
„Durch eine abgestimmte Kombination von verschiedenen Effekten erzeugen wir beim Publikum das Gefühl, dass es sich um einen echten Hubschrauber handelt“, erklärt der technische Leiter, ohne näher ins Detail gehen zu wollen. „Das ist die Magie des Theaters! Der menschliche Verstand füllt die Lücken, und damit entsteht die perfekte Illusion.“ Dabei ist der Hubschrauber selbst keine Illusion, sondern ein Original, das für die Anforderungen des Bühnendesigns ein wenig adaptiert wurde.
Ein eigener Sattelschlepper war not- wendig, um das Monstrum ins Raimund Theater zu liefern und auf der Hinterbühne zu parken. Wie das überdimensionale Requisit dann in die Luft geht, darüber hüllen sich die Verantwortlichen in wohlwollendes Schweigen. Nur so viel: Zehn Bühnentechniker sind für den reibungslosen Ablauf allein dieser Szene verantwortlich. Auch der sonst so auskunftsfreudige Musicalchef der Vereinigten Bühnen Wien, Christian Struppeck, hält sich bei dieser Frage eher bedeckt: „Diese dramatische Landung eines Hubschraubers auf offener Bühne ist eines der eindrucksvollsten Bilder der Musicalgeschichte.“ Und jeden Abend erneut eine Herausforderung für Darsteller wie Bühnentechniker.
Wenn die Technik dabei hilfreich sein kann, dann hat sie ihren Zweck erfüllt.
Vanessa Heinz, Sängerin
Aber auch abseits der Technik kann „Miss Saigon“ mit Superlativen punkten. Allein sechzehn Kostümwechsel für die Darsteller, von der Armeeuniform bis hin zu den mit ein Kilo Glasperlen bestickten Bikinis, beeindrucken genauso wie das detailverliebte Bühnenbild. Detail am Rande: Die Schutzwesten der GI und die Stahlhelme sind Originale aus der Zeit der Vietnamkriegs.
Wochenlanges Training
Spezielle Anforderungen müssen auch die Hauptdarsteller und der Cast erfüllen. „Das schnelle Tempo und die vielen Wege erfordern von jedem Mitwirkenden ein Höchstmaß an Konzentration“, so der Dance Captain Winchester Lopez. „Um dieses Uhrwerk an Präzision zum Laufen zu bringen, waren besonders viele Proben notwendig. Mehr als für jede andere Musicalshow.“ Oedo Kuipers, im Stück der US-amerikanische GI Chris: „Wir haben uns während der Proben ganz langsam dieser Szene angenähert und dann immer wieder geprobt, geprobt und geprobt.“ Heute ist den Darstellern der Ablauf in Fleisch und Blut übergangen. Nicht zu vergessen: Schließlich kommen zu der komplizierten Choreografie auch noch der Gesang und das Schauspiel.
Lampenfieber hat der smarte Musicaldarsteller nicht mehr als sonst. Trotzdem: „Ich versuche mich für diesen Auftritt etwas mehr zu konzentrieren, damit nichts passieren kann.“ Schließlich wimmelt es auf der Bühne nur so von Darstellern. „Einmal bin ich schon mit einem Kollegen zusammengestoßen“, verrät Kuipers, „passiert ist aber nichts, und wir haben konzentriert weitergespielt.“ „Flexibilität und eine ganz exakte Kenntnis der Choreografien“ sind laut Dance Captain die Garantie für den Erfolg und für die Sicherheit aller Beteiligten. „Denn die Sicherheit steht auf einer Musicalbühne an oberster Stelle.“
Vanessa Heinz, das Küken im Ensemble und frisch vom Studium als Kim im Cast: „Es ist fast wie ein Rausch, die schnelle Musik, das rasche Tempo. Davon lasse ich mich immer wieder inspirieren.“ Die großartige Bühnenperformance gibt dem Jungstar recht.„Lampenfieber habe ich überhaupt nicht. Ich freue mich jeden Abend auf diese Szene, weil sie das Highlight des ganzen Musicals ist.“ Und das perfekt aufeinander abgestimmte Ensemble tut ein Übriges. Bei all der Emotion ist es auch schon mal passiert, dass Vanessa den Text vergaß. „Ich habe mir dann mit irgendwelchen Worten geholfen, bis ich im Text wieder drin war.“ Große Emotion nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Darsteller.
Und sollte es doch einmal zu technischen Problemen kommen, dann gibt es selbstverständlich einen Notfallplan, damit das Erlebnis für das Publikum nicht geschmälert wird. Allerdings sei dieser Fall bisher erst ein einziges Mal eingetreten, wie der technische Leiter anmerkt. „Bühne ist Magie und soll auch Magie bleiben.“
Technik und Kunst
Bleibt abschließend die Frage, ob denn nur mit technischem Schnickschnack und imposanten Bühnenbildern Musicalproduktionen heute beim Publikum punkten können? „Es ist keine Frage der Technik“, meint Vanessa Heinz und führt aus: „Es geht doch allein darum, Menschen für einen Abend in eine andere Welt zu entführen, zu begeistern und zu unterhalten.“ Nachsatz: „Wenn die Technik dabei hilfreich sein kann, dann hat sie ihren Zweck erfüllt.“
Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Oedo Kuipers. „Wenn ein Stück nicht funktioniert, dann nützen die technischen Effekte auch nichts.“ Außerdem gehöre zum Musical eben das große Drama und dazu auch ein beeindruckendes Bühnenbild. Dance Captain Winchester Lopez bringt es auf den Punkt: „Ist es nicht großartig, dass wir überhaupt so eine Technik haben? Wir Bühnenschaffenden wollen doch unserem Publikum ein emotionales Erlebnis bieten, an das man sich gern erinnert.“
Wie dieser Bühnentrick nun genau funktioniert, bleibt an dieser Stelle zweitrangig. Denn das Musical des „Les Mi- sérables“-Komponisten Claude-Michel Schönberg in seiner deutschen Übersetzung von Michael Kunze funktioniert in Wien sehr erfolgreich – leider nur noch in dieser Saison.