Gern möchte ich an Klaus Schöch erinnern. Er war Volksschauspieler, und jeder in Vorarlberg hat ihn gekannt, und jeder hat ihn geliebt. An den Sonntagvormittagen flanierte er über die Marktgasse in Feldkirch, grüßte nach rechts und nach links, gab hier ein Autogramm, brachte dort Vater Mutter Kind zum Lachen.

Anzeige
Anzeige

Dann kehrte er in eines der Gasthäuser ein, gerecht übers Jahr verteilt immer in ein anderes, und bestellte einen „Schöch“, das waren zwei große Bier. Klaus – ich darf ihn so nennen, er war mein Freund – hatte eine eigene Fernsehsendung, und bald trat er nicht mehr nur in Vorarlberg auf, sondern auch in Linz, Salzburg, Graz und am Volkstheater und an der Josefstadt in Wien und auf verschiedenen Bühnen in Deutschland und in der Schweiz.

Klaus Schöch als unsympathischer Wirt

Ich erinnere mich, als er den Wirt in Felix Mitterers Stück „Kein Platz für Idioten“ spielte. Die Produktion ging in Vorarlberg auf Tournee, und sie wurde auch im Bregenzerwald gezeigt, in einem Gasthaus auf der Blasmusikbühne. Bei dieser Aufführung war ich dabei. In dem Stück wird von einem Großvater erzählt, der sich ­rührend um seinen geistig behinderten Enkelsohn kümmert. Die beiden sitzen im Wirtshaus, bestellen ein Schnitzel, da kommt der Wirt – eben Klaus Schöch – und fordert sie auf zu gehen; der Anblick des Buben sei bei Gott nicht erfreulich, er vertreibe die anderen Gäste. Nach der Aufführung großer Applaus. Als Klaus auf die Bühne trat, um sich zu ver­beugen, wurde es deutlich leiser im Saal, auch Murren war zu hören. ­Danach ­saßen wir alle noch in der Wirtsstube beieinander, bestellten ein Schnitzel, ­bestellten ein Bier.

Spiel ist Ernst!"

Eine Wirtin zu Klaus Schöch nach einer zu realistischen Darstellung

Da trat die Wirtin an unseren Tisch. Sie stemmte die Fäuste in die Seiten, ­deutete auf Klaus und sagte: „Der da kriegt nichts!“

Klaus erschrak, konnte nur sagen: „­Warum nicht?“

Anzeige
Anzeige

„Weil du dem armen Buben auch nichts geben wolltest“, sagte sie.

„Aber das ist doch im Spiel“, stammelte Klaus, der Hunger und Durst hatte.

„Spiel ist Ernst“, parierte die Wirtin.

Einer der Truppe meldete sich, sagte, er, also der Typ, den er spiele, der sei doch noch viel unverschämter zu dem Buben. Warum denn er ein Schnitzel und ein Bier bekomme und der Klaus nicht.

„Bei dir hat man gemerkt, dass dir das eigentlich zuwider ist, was du da ­spielen musst“, sagte die Wirtin. „Bei dem da aber ist klar, der ist so.“

Der Schauspieler tut als ob

Es hat alles nichts genützt, Klaus hat weder zu trinken noch zu essen bekommen. Und – ich versichere, ich will mich nicht dümmer machen, als ich bin – ich habe der Wirtin, tief in mir drinnen freilich nur, recht gegeben. Als ich Klaus auf der Bühne sah, wie er mit dem Großvater und dem Buben umgeht, da war ich empört. Natürlich ist man ­empört, wenn man Empörendes auf der Bühne sieht; aber man weiß doch zugleich immer, das ist Spiel, der Schauspieler tut als ob. Beim Spiel des Schauspieler Klaus Schöch vergaß ich das. Die Empörung war unbedingt. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte gerufen: „Schluss jetzt! Das tut man nicht!“ 

Noch als wir nach der Aufführung gemeinsam an einem Tisch saßen, war mir die nahe Anwesenheit von Klaus, der doch mein lieber Freund war, unan­genehm, jedenfalls in der ersten halben Stunde. Die Wirtin war der Meinung und sagte das auch deutlich, dass sie sich sicher sei, Klaus habe auf der Büh­ne ihres Gasthauses gar nicht gespielt, er sei in Wahrheit gar kein Schauspieler, jedenfalls kein guter, er habe sich schlicht und einfach gezeigt, wie er ist, und das sei schließlich keine Kunst, sondern eine Sauerei. 

„Du bist so einer, und so einer kriegt bei mir kein Schnitzel und kein Bier!“

Empörtes Publikum ist ein Kompliment

Da war nichts zu machen. Klaus und ich verließen das Wirtshaus, gingen ­irgendwo anders hin. Ich sagte zu ihm – ich gebe zu, immer noch halb­herzig: „Klaus, das musst du als ein Kompliment sehen! Du bist als Schauspieler einfach zu gut. Die Leute vergessen, wenn sie dich sehen, dass du spielst. ­Etwas Besseres kann man über einen Schauspieler nicht sagen!“

Er sah mich, der liebe Klaus, der niemals einen Großvater und seinen behinderten Enkel aus dem Gasthaus geschickt, der, wäre er Zeuge eines solchen Vorgangs geworden, sich erhoben und laut protestiert hätte, er sah mich an und sagte: „Kann ein Schauspieler zu gut spielen?“

Bette Davis wurde Opfer ihrer Schauspielkunst

Ich erzählte ihm die Geschichte von Bette Davis. In dem Film „Was geschah wirklich mit Baby Jane?“ spielt sie – alt und hässlich geschminkt – eine gnaden­los böse Frau, die ihre Schwester tyrannisiert, eine erschreckende Sadistin. Frau Davis war im „wirklichen Leben“ weder arrogant noch sadistisch; sie war, ­be­sonders zu Leuten, die nichts mit dem Filmgeschäft zu tun hatten, freundlich und unterhielt sich gern mit ihnen. Die Bäckersfrau, bei der sie jeden Morgen Brot einkaufte, durfte von sich behaupten, der Filmstar sei ihre Freundin, denn nicht selten kam es vor, dass die beiden eine Stunde oder länger miteinander plauderten; sie erzählten sich gegen­seitig ihre Sorgen.

Die Bäckersfrau konnte gut singen, sie hatte eine hübsche Stimme, und es wird bezeugt, dass Frau Davis und sie nicht selten vor den anderen Kunden ein Morgenständchen gaben. Nachdem der Film in die Kinos gekommen war und die Bäckersfrau ihn gesehen hatte, weigerte sie sich, Bette Davis zu be­dienen. „Von meinem Brot bekommst du nichts mehr!“, habe sie gerufen und vor der Schauspielerin die Tür zu ihrem Laden­ zugeschlossen. Bette Davis musste sich eine andere Bäckerei suchen. Und das sei nicht leicht gewesen, denn auch in den anderen Geschäften habe man den Film gesehen, und man war der Meinung, so wie die das macht auf der Leinwand, das kann man nur, wenn man auch im ­Leben so ist.

Ich habe ein Berufsethos, ja, das habe ich!

„Dann“, sagte Klaus, „dann hätte ich wahrscheinlich nicht Schauspieler werden sollen. Ich will ja, dass man mich mag.“

„Dann darfst du eben nur Rollen annehmen, die sympathisch sind“, sagte ich.

Da reckte er seine Oberkörper empor, Klaus war ein mächtiger Mann, und sagte: „So weit kommt’s noch! Wirklich nicht! Ich habe ein Berufsethos, ja, das habe ich!“

Klaus Schöch starb an einem Sonntagvormittag, er erlitt einen Herzinfarkt; er war auf dem Weg in die Stadt, wo er über die Marktgasse flanieren wollte, nach rechts grüßen, nach links, hier ein Autogramm geben, dort eine Familie zum Lachen bringen. Dann hätte er sich in ein Wirtshaus gesetzt und einen „Schöch“ bestellt … 

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 70 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: „Bruder und Schwester Lenobel“, Roman, Hanser Verlag, „Die Märchen“, Hanser Verlag

Weiterlesen

Michael Köhlmeier über das Tragisch-Komische

Über die Dringlichkeit, ins Theater zu gehen

Über probieren oder trainieren