Theater gegen die Einsamkeit: „Schnee“ im Hamakom
Entlang scheinbarer Alltagsbanalitäten versucht Claudia Tondls Text „Schnee“ zum Kern menschlichen Zusammenlebens vorzudringen. Wir haben mit Regisseurin Ingrid Lang und Musiker Lukas Lauermann über diese besondere Form der Spurensuche gesprochen.
Unbemerkt, stumm und allgegenwärtig begleitet das Alter in der Inszenierung von Ingrid Lang die Protagonist*innen aus Claudia Tondls Stück „Schnee“ auf Schritt und Tritt. Mal tippt es ihnen auf die Schulter, um sich bemerkbar zu machen, dann verschwindet es wieder und wird zum Schattenwesen. Dabei hinterlässt es Spuren, von denen man sich hin und wieder wünschen würde, sie wären von solch flüchtiger Natur wie Fußabdrücke auf Neuschnee.
Um das Alter geht es in dem aus kurzen, poetischen Schnipseln bestehenden Stück ebenso wie um die häufig damit verbundene Einsamkeit. „Einsamkeit ist jedoch nicht nur ein Thema, das ältere Menschen betrifft“, wirft Ingrid Lang, Regisseurin der Uraufführung im Hamakom, ein. „Auch die Einsamkeit in Beziehungen spielt im Text eine zentrale Rolle – im anderen zu spüren, wie allein man sich eigentlich fühlt. Aber auch von der Schwierigkeit, sich in einer Beziehung wirklich zu begegnen, von versäumten Momenten und Augenblicken wirklicher Berührung handelt Claudia Tondls Stück. Ich glaube, dass wir seit der Pandemie in einer Welt leben, in der Berührungen nicht mehr selbstverständlich sind.“
Wir wussten, dass wir miteinander arbeiten wollen, und haben einen Text gesucht, der einerseits zu meinem sehr formalen Zugriff passt, der andererseits auch einen wirklichen Platz für die Musik hat.
Ingrid Lang
Ausgangspunkt des Textes ist der Tod einer alleinstehenden älteren Frau in ihrer Wohnung. Ihr toter Körper bleibt lange unentdeckt, die anderen Hausbewohner*innen beginnen sich zu fragen, warum sie niemand vermisst hat. Aufgrund dieses Vorfalls tritt das Alter langsam in ihr Bewusstsein, fügt die Regisseurin hinzu. „In unserer Inszenierung wird es von der Schauspielerin Rahel Ohm verkörpert, die von den anderen Figuren zunächst gar nicht bemerkt wird. In gewisser Weise ist sie mit dem Bühnenbild von Patrick Loibl verschmolzen.“
Ein wirklicher Platz für die Musik
Vieles bleibt in Claudia Tondls Stück, das aus sieben Teilen besteht, unausgesprochen – schwelt unter der Oberfläche wie unter einer dicken Schneedecke. Das Unaussprechbare kommt in der Musik zum Ausdruck, die der Cellist Lukas Lauermann eigens für die Uraufführung komponiert hat. Im Interview zitiert er den französischen Autor Victor Hugo: „Die Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Für Ingrid Lang, die nicht nur Regie führt, sondern seit 2020 auch für die Gesamtleitung des Theaters am Wiener Nestroyplatz verantwortlich ist, eine längst überfällige Zusammenarbeit: „Wir wussten, dass wir miteinander arbeiten wollen, und haben einen Text gesucht, der einerseits zu meinem sehr formalen Zugriff passt, der andererseits auch einen wirklichen Platz für die Musik hat – sie nicht als Begleiterscheinung begreift. Eigentlich hatte die Autorin für diesen Part ein Theremin vorgesehen.“
Warum die Autorin ausgerechnet dieses wenig bekannte elektronische Musikinstrument in ihr Stück hineingeschrieben hat, möchten wir von Ingrid Lang wissen. Ihre Begründung ist eng mit dem Inhalt des Stücks verwoben: Das 1920 von Lew Termen erfundene Theremin ist das einzige Instrument, das ohne Berührung Töne erzeugt. „Claudia Tondl war aber auch total einverstanden damit, dass es in unserer Inszenierung ein Cello wird“, fügt die Regisseurin lachend hinzu.
Zur Person: Ingrid Lang
Die gebürtige Niederösterreicherin studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig. Während des Studiums spielte sie am Deutschen Nationaltheater Weimar. Im Theater Nestroyhof Hamakom gab sie mit Caryl Churchills „In weiter Ferne“ ihr Regiedebüt. Die Inszenierung wurde in der Kategorie „Beste Offproduktion“ für den Nestroy nominiert. Seit 2018 ist Ingrid Lang künstlerische Leiterin des Theater Nestroyhof Hamakom und seit 2020 für die Gesamtleitung des Hauses verantwortlich.
Lukas Lauermann, der als Komponist und Musiker schon mit Künstler*innen wie Soap&Skin, Wanda, Mira Lu Kovacs, Tocotronic, Saint Genet, Jacqueline Kornmüller und vielen anderen gearbeitet hat, war während des gesamten Probenprozesses dabei. „Ich hatte eine Vorstellung davon, was ich machen möchte, habe während der Proben aber wieder einiges davon verworfen. Ein grober Rahmen ist aber geblieben“, so Lauermann. Das Cello ist für den Musiker und Komponisten zwar eine Form von Ankerpunkt, darüber hinaus kommt in der Inszenierung aber auch viel Elektronisches zum Einsatz, erklärt er.
„Der Abend ist wie eine Partitur“
Wir treffen ihn und Ingrid Lang wenige Tage vor der Premiere von „Schnee“ im Foyer des Hamakom. „Ich verwende unter anderem Speichermedien, in die ich Dinge hineinspiele, weil es im Stück ja auch viel um den Vorgang des Erinnerns geht. Auch die Wahrnehmung von Zeit lässt sich mit Klängen gut ausdrücken – man kann sie ausdehnen oder man lässt sie zerbröseln.“ Musikalisch orientierte er sich auch an der Form des Textes, vor allem an der schnellen Abfolge der Szenen, an die Ingrid Lang mit sehr viel Liebe für das Formale herangegangen ist.
Ich möchte mit der Musik, die ich für diese Arbeit geschrieben habe, kein Album machen. Die Musik funktioniert nur, wenn auch gespielt wird.
Lukas Lauermann
„Der Abend ist wie eine Partitur“, bringt es die Regisseurin, die ihre Theaterkarriere als Schauspielerin begonnen hat, auf den Punkt. Sie setzt nach: „Die Spieler*innen haben das toll mitgemacht. Es kann ein anstrengender Prozess sein, sich innerhalb dieses formalen Korsetts freizuspielen. Man kann und darf sich darin frei bewegen, sollte es aber nicht ausziehen, sonst fällt alles auseinander.“ Auch als Spielerin seien solch streng durchchoreografierte Inszenierungen jene Produktionen gewesen, in denen sich sie am wohlsten gefühlt hat.
Außerdem sind es meist eher langsame Welten, die sie in ihren Inszenierungen erschafft. „Ich liebe langsame Vorgänge auf der Bühne, sie geben mehr preis, und ich mag es auch, wenn die Dinge im Dazwischen, wenn sie uneindeutig bleiben. Außerdem schaue ich mir Szenen oder auch einzelne Sätze gerne unter der Lupe an – gehe immer weiter und weiter in eine Sache hinein. Dadurch entsteht für mich eine Purheit oder auch Nacktheit.“ Diese Genauigkeit und Kleinteiligkeit sei auch etwas, was er aus seiner Art und Weise zu komponieren gut kennt, fügt Lukas Lauermann hinzu.
Zur Person: Lukas Lauermann
Lukas Lauermann ist Komponist und Musiker. Als Cellist versteht er es, das Klangspektrum seines Instruments mit Elektronik zu erweitern. Lauermann arbeiten neben seinen Solo- und Bandprojekten auch für Musiker*innen wie Alicia Edelweiss, Donauwellenreiter u.v.a. Auch in Theater- und Filmprojekten war seine Musik schon zu hören. 2021 wurde Lukas Lauermann mit dem Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich ausgezeichnet.
Theater gegen Einsamkeit
An der Theaterarbeit sei für ihn unter anderem die Zusammenarbeit all der unterschiedlichen Gewerke besonders spannend, ergänzt er nach einer kurzen Pause. „Ich möchte mit der Musik, die ich für diese Arbeit geschrieben habe, kein Album machen. Die Musik funktioniert nur, wenn auch gespielt wird.“ Auch umgekehrt ist es so, merkt Ingrid Lang an. „Das Stück, so wie es jetzt ist, funktioniert nicht ohne Lukas und seine Kompositionen. Es fallen einem ja auch Dinge ein, weil der Sound so ist, wie er ist. Das ist für mich auch das Schöne am Theater – dass so viele unterschiedliche Menschen und Kunstformen in einem Projekt zusammenfließen.“
„Gleichzeitig ist das aber auch das Herausfordernde“, wirft Lukas Lauermann lachend ein. „Es ist schon ein großer Unterschied zum Musikmachen, egal ob als Solo-Musiker*in oder in einer Band, dass man zwei Monate lang intensiv auf einen Premierentermin hinarbeitet. Das erzeugt unglaublich viel Energie, gleichzeitig aber auch eine große Anspannung.“
Bevor sich unsere Wege wieder trennen und es für Ingrid Lang und Lukas Lauermann in die letzte heiße Probenphase geht, kommt die Regisseurin noch einmal zum Thema Einsamkeit zurück. „Man kann auf jeden Fall sagen, dass es an sich schon gegen Einsamkeit hilft, wenn man ins Theater kommt und sich das Stück anschaut. Ich würde mir wünschen, dass es einen Sog entwickelt, der nicht davon abhängig ist, ob man alles versteht. Schön wäre auch, wenn man durch das Stück vielleicht auf die Idee kommt, jemanden anzurufen, bei dem man sich länger nicht gemeldet hat.“