Der Mann ist begehrt. Mehrfach als Regisseur des Jahres ausgezeichnet und als eines der größten Inszenierungstalente seiner Generation gefeiert. Von internationalen Opernhäusern umgarnt und vom Publikum verwöhnt. Häufig mit dem Prädikat „Regiestar“ versehen. Tobias Kratzer, im sportiven Hipster-Outfit zum Fotoshooting in der Museums- Quartier-Halle E, seinem Arbeitsplatz für die nächsten Wochen, erschienen, lacht. „Ich nehme den Begriff freudig zur Kenntnis, würde ihn mir aber nicht selbst anheften. Natürlich ist es schöner, wenn einem ein positiver Ruf vorauseilt, statt dass es heißt: Ach, der schon wieder! Etwas anderes zu behaupten wäre verlogen.“

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Er ist in der Stadt, um am MusikTheater an der Wien Gioachino Rossinis Oper „La gazza ladra“ – „Die diebische Elster“ – zu inszenieren. Ein selten gespieltes, lange Zeit völlig in Vergessenheit geratenes Werk der Gattung Opera semiseria, was in etwa bedeutet, dass es Züge eines Melodrams in sich trägt, aber dank dem glücklichen Ausgang nicht völlig in die Tragödie kippt. Der Inhalt: Ninetta, Dienstmädchen von niedrigem Rang, allerdings mit dem Sohn der Herrschaft verlobt, wird des Diebstahls bezichtigt. Ein silberner Löffel ist abhanden gekommen. Da sie zeitgleich versucht, Gegenstände aus eigenem Besitz zu verkaufen, um ihrem aus der Armee desertierten Vater beizustehen, wird sie des Löffelraubs verdächtigt und sogar zum Tode verurteilt. Am Ende entpuppt sich glücklicherweise die Elster als Diebin, und alles wendet sich zum Erfreulichen.

Tobias Kratzer hat das Werk noch nie live gesehen, es dem MusikTheater an der Wien aber vorgeschlagen. Warum? „Ich hatte eine andere Rossini-Oper geplant. Als aber klar war, dass wir aufgrund der Renovierung in die Halle E ausweichen müssen, fand ich sie nicht mehr passend. „La gazza ladra“ hat eine ungemein hohe theatrale und musikalische Qualität. Es ist sehr gut gebaut, nach heutigen Maßstäben könnte man sagen, es ist ein well-made play. Dass es völlig unbekannt ist, hat mich gereizt – ich möchte herausfinden, ob es so gut funktioniert, wie ich mir das vorstelle, oder ob es einen Grund hat, warum es so selten gespielt wird.“ Tobias Kratzer hat also den Schalk im Nacken, dabei aber die titelgebende Elster fest im Visier. „Ich nehme sie sehr ernst.

Wir werden das Geschehen auch durch ihre Augen wahrnehmen. Sie wirft einen unbestechlichen, objektiven, nicht wertenden Blick auf die Liebeswirren und Intrigen der Menschen“, umreißt er sein Regievorhaben. Dass das Stück eine Moral hat, bezweifelt er. „Eher ist es moralkritisch in dem Sinne, als es zeigt, dass jede Moral menschengemacht ist und man bei seinen eigenen Wertmaßstäben bleiben sollte. Denn wenn man diese an ein System delegiert, überrollen sie einen, was im Stück auch allen Figuren passiert.“ Aber triumphiert nicht wenigstens am Ende die Wahrheit?

Auch da muss Tobias Kratzer schmunzelnd widersprechen. „Die Wahrheit ist hier ein dramaturgisch dünner plot point, denn eigentlich ist es mehr ein Zufall, dass das Nest der Elster gefunden wird. Es ist ein Stück, das höhere Mächte und aufgeklärte Moral nicht unbedingt kennt.“ Am ersten Probentag hat das gesamte Ensemble seinem Konzept applaudiert, wie uns Nino Machaidze, Darstellerin der Ninetta, verriet – und das verheißt tatsächlich Gutes.

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Weltberühmte Ouvertüre

Zumindest die musikalische Einleitung, welche laut Tobias Kratzer „die Grunddynamik des Flugs der Elster bildlich heraufbeschwört“, ist wohlbekannt – und zwar aus Filmen wie Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ oder „Es war einmal in Amerika“ von Sergio Leone. „Das Vorspiel zur ‚Diebischen Elster‘ habe ich am Tag der Uraufführung unter dem Dach der Scala geschrieben, wo mich der Direktor gefangen gesetzt hatte. Ich wurde von vier Maschinisten bewacht, die die Anweisung hatten, meinen Originaltext Blatt für Blatt den Kopisten aus dem Fenster zuzuwerfen, die ihn unten zur Abschrift erwarteten“, behauptete Rossini später. Ist das glaubhaft?

„Es gibt ähnliche Legenden zur Entstehung der ‚Don Giovanni‘-Ouvertüre, die Mozart sehr kurzfristig komponiert haben soll. Ich glaube, da ist ein wenig Übertreibung dabei. Wenn man aber sieht, in welchem Tempo am Beginn des 19. Jahrhunderts Opern geschaffen wurden – viele waren Auftragswerke – und wie viel Kompositionsroutine dahintersteckte, denke ich, dass wir nicht so weit von der Realität entfernt sind.“ Tobias Kratzer ist jedenfalls froh, mehr Probenzeit und bessere Arbeitsbedingungen zu haben.

Tobias Kratzer
Tobias Kratzer vor dem Museumsquartier.

Foto: Max Manavi-Huber

Vibrante Selbstinszenierung

Seine steile Karriere begann – streng genommen, und in diesem Fall wollen wir das gerne sein – in Österreich. Gemeinsam mit dem Ausstatter Rainer Sellmaier, bis heute und aktuell auch bei „La gazza ladra“ sein engster Bühnenpartner, trat er 2008 beim Grazer Regienachwuchswettbewerb Ring Award an, um der Jury sein Konzept für den letzten Akt des „Rigoletto“ vorzustellen. Einmal als amerikanische Aspirantin Ginger Holiday, angeblich einst Assistentin der Hollywood-Diva Liz Taylor, und einmal als bulgarischer Regieneuling Pedrak Topola. „Wir hatten zwei Konzeptideen und wussten nicht, welche wir einreichen sollten. Dann habe ich das Kleingedruckte gelesen – und da stand nichts davon, dass man sich nicht mehrfach oder unter einem Pseudonym bewerben konnte. Ich dachte, eigentlich ist es ja ein theatraler Wettbewerb, insofern schadet diesem eine Art Metaperformance auch nicht.“

Kurz überlegten die Verantwortlichen nach Auffliegen des Coups zwar eine Disqualifizierung, nahmen dann aber Abstand davon, wurden doch tatsächlich keine Regeln verletzt. Ginger gewann drei Preise, das Kollektiv um Pedrak Topola entschied sogar das Finale für sich.

Sprechtheater inszeniert Tobias Kratzer nicht mehr, er hat sich ganz der Oper verschrieben. „Ich mochte schon immer, wenn Geschichten durch Musik erzählt wurden. Auch in der Popmusik fand ich es immer spannender, wenn Musik nicht nur eine Emotion vermittelt, sondern auch eine Storyline drinsteckt. Insofern war für mich als Kind die EAV fast formbildend. Über die musikalische Qualität kann man sich ja streiten, aber die Tatsache, dass das Medium eines

Austropop-Songs genützt wird, um einen ganzen Story-Kosmos zu entfalten, der oftmals auch einen gesellschaftskritischen Impetus hat, ist etwas, was es mit vielen großen Werken der Opernliteratur teilt.“ Epilog: „Und in der Oper findet das seine Krönung.“

Zur Person: Tobias Kratzer

Geboren in Landshut, Studium Schauspiel- und Musiktheaterregie an der Theaterakademie August Everding in München. Inszenierungen u.a. an der Opéra national de Paris („Faust“), am Royal Opera House Covent Garden („Fidelio“), dem Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel („Il trittico“) und an der Nationale Opera en Ballet in Amsterdam („Les contes d’Homann“). 2019 realisierte er mit großem Kritiker- und Publikumserfolg Richard Wagners „Tannhäuser“ bei den Bayreuther Festspielen. In dieser Spielzeit stehen noch „Arabella“ an der Deutschen Oper Berlin und „Die ersten Menschen“ des früh verstorbenen Komponisten Rudi Stephan in der Oper Frankfurt an.

Zu den Spielterminen von „La gazza ladra“ im MQ/Halle E!