Dialogues des Carmélites: Blockbuster der großen Melodien
Gegen die Sterbeszene in „Dialogues des Carmélites“ ist Leonardo DiCaprios „Titanic“-Tod ein Frühlingsspaziergang. Francis Poulencs Oper feiert Premiere an der Staatsoper. Ein lichtdurchflutetes Meisterwerk gegen die Angst vor dem Tod.
Es sind 7 Minuten und 38 Sekunden. Und sie gehören zum Emotionalsten, was die Oper zu bieten hat. Es ist ein Finale, so groß und ergreifend, dass das „Titanic“-Ende und Leonardo DiCaprios Tod im Eismeer im Vergleich dazu wie ein Kindergeburtstag wirken.
16 Nonnen gehen würdevoll nacheinander zum Schafott. Die Melodie, die sie dazu begleitet, beginnt wie Ravels „Bolero“, schwillt an zu einem großen Chor, immer wieder unterbrochen von dem lauten und scharfen Zischen des Fallbeils. Mit jedem Nonnen-Tod wird die Musik reduzierter. Schließlich singt die letzte Nonne, begleitet von Glockengeläut. Als das Fallbeil auch sie tötet, ist einige Sekunden lang reine Stille. Dann, eingeläutet vom Schlag einer Triangel, schwillt die Musik für ein paar Momente leise an. Vorhang.
Kein Opernhaus der Welt, in dem in den Sekunden des Nichts nicht völlige Stille herrscht und die Menschen nicht gebannt und bewegt auf die Bühne starren, viele mit Tränen in den Augen.
Das ist das übergroße Ende einer der schönsten Opern, die jemals komponiert worden sind: „Dialogues des Carmélites“ – die „Gespräche der Karmelitinnen“ – von Francis Poulenc.
Drei Akte hat das Stück, zwölf Bilder, und es basiert auf der wahren Geschichte der Märtyrinnen von Compiègne. 16 Karmelitinnen wurden am 17. Juli 1794 hingerichtet. 1931 hat die deutsche Schriftstellerin Gertrud von le Fort darüber eine kurze Erzählung geschrieben, die wiederum Georges Bernanos zu einem Drehbuch inspirierte, das in weiterer Folge die Grundlage von Francis Poulencs Oper wurde.
Im Orgelsaal der Staatsoper
Am 21. Mai feiert sie Premiere an der Wiener Staatsoper. Am Pult steht Bertrand de Billy – für den gebürtigen Pariser ein Heimspiel. Warum? Weil die Oper in Frankreich – im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum – ein Hit à la „Bohème“ ist. Publikumsliebling Michaela Schuster ist mit dabei, ebenso die durch ihr Einspringen beim „Figaro“ zum Star gewordene Maria Nazarova und Nicole Car in der Hauptrolle der Blanche.
Regie wird die gebürtige Salzburgerin Magdalena Fuchsberger führen. Mit ihr und Nicole Car haben wir ausführlich über das Stück, die Regie und das große Thema, das über allem schwebt, gesprochen.
Der Orgelsaal in der Wiener Staatsoper ist im vierten Stock. Auf der einen Seite steht die Orgel, die dem Raum den Namen gibt. Wird unten im Saal ihr Klang gebraucht, wird er von hier übertragen. Auf dem Boden: grüne, blaue und gelbe Klebestreifen. Kulissen mit vielen Türen stehen herum. Es sind die letzten Überbleibsel der Endproben des viel umjubelten „Figaro“. Barrie Kosky und sein Team haben sie auf unseren Wunsch stehen gelassen und nicht weggeräumt. Der Grund: Wir wollten Nicole Car nicht in einem nackten Saal fotografieren.
Die Melodien holen einen ab, weil man glaubt, sie aus Hollywoodfilmen zu kennen.
Nicole Car
Es ist Samstagnachmittag. Nicole Car tritt strahlend durch die Tür, begleitet von ihrem Mann, dem Bariton Étienne Dupuis. Ein kurzes Hallo zu uns, eine kurze, liebevolle Verabschiedung von Nicole Car, und Dupuis ist auch schon wieder weg.
Es wird das erste Mal sein, dass sie in Wien die Blanche singt. Sie lacht, als ich ihr meinen „Titanic“/„Karmelitinnen“-Vergleich erzähle. „Es stimmt schon, wie du gesagt hast: Dieses Werk ist für das Publikum wie ein großer Blockbuster. Die Melodien holen einen ab, weil man glaubt, sie aus großen Hollywoodfilmen zu kennen. Ich habe die ‚Karmelitinnen‘ einige Male als Zuschauerin erlebt, und immer gab es bei der letzten Szene, bei dem ersten Fallen des Beils, diesen kollektiven Schreckmoment. Ich weiß gar nicht, wie ich das emotional überstehen werde, ohne zu weinen.“
Während sie spricht, sucht Car gemeinsam mit Fotografin Rafaela Pröll ihr erstes Outfit aus. Noch nie waren wir von der BÜHNE beim Fotografieren in Sachen Ausstattung so nah am Inhalt eines Werks. Normalerweise vermeiden wir es, weil wir nicht mit den echten Kostümen arbeiten können – wir wollen keine Verwirrung stiften, wenn dann die Premiere ganz anders aussieht. Aber Poulenc hat seine Oper so klar und stringent komponiert, dass – egal was die Regie macht – die Klostersituation bestehen bleibt.
Car: „Es gibt in der Operngeschichte kaum ein Werk, das Frauen so sehr in den Mittelpunkt stellt. Gemeinsam – aber auch jede für sich – entscheiden sie sich, in den Tod zu gehen. Blanche ist ein so spannender Charakter, weil sie eigentlich nur in Frieden und Einfachheit im Kloster leben möchte. Aber schon in der ersten Szene hat sie eine Todesahnung.“
Die – sehr verkürzte – Inhaltsangabe: Es ist die Zeit der Französischen Revolution. Blanche de la Force, die aus adeligem Haus stammt, wird bedroht und bittet, in ein Kloster gehen zu dürfen. Das wird von den Revolutionären gestürmt, die Schwestern werden verhaftet. Blanche will zuerst bleiben, flieht aber dann. Währenddessen beschließen die verbleibenden Nonnen, gemeinsam in den Tod zu gehen. Blanche kehrt zurück und schließt sich den Schwestern bei ihrem Gang zum Schafott an, sie stirbt als Letzte. Im wahren Leben wurden die 16 Schwestern von Papst Pius X. 1906 seliggesprochen. Die Rolle der Blanche wurde dazuerfunden.
Zur Person: Nicole Car
ist in Melbourne geboren und hat dort studiert. Sie ist eine der Heldinnen der Oper: 2020 sprang sie zwei Tage vor der Premiere von Tcherniakovs „Eugen Onegin“ ein und sang die Tatjana. Sie ist eine der führenden Sopranistinnen der Welt und singt an allen großen Bühnen – von der Met bis zum Royal Opera House. Car ist mit dem kanadischen Bariton Étienne Dupuis verheiratet.
Das Drama der Entstehung
Eigentlich wollte Francis Poulenc ein Ballett über das Leben der Büßerin Margareta von Cortona schreiben. Als er sich aber intensiver mit deren Biografie zu beschäftigen begann, ließ er die Idee fallen: Die Italienerin gründete zwar ein Spital, war aber in der Bevölkerung vor allem durch ihre blutigen Selbstgeißelungen bekannt geworden und damit eine wenig geeignete Grundlage für ein heiteres Tanzstück. Sein Verleger zeigte ihm 1953 das Drehbuch zu den „Karmelitinnen“, und Poulenc war begeistert.
Aber die Arbeit stand unter keinem guten Stern: Zuerst gab es juristische Streitigkeiten über die Verlagsrechte, dann wurde Poulencs Lebensgefährte Lucien Roubert schwer krank. Der Komponist erlitt einen Nervenzusammenbruch. Erst als sich Roubert erholte, begann Poulenc wieder zu komponieren.
Als er im Oktober 1955 die letzten Takte seiner Oper schreibt, stirbt Roubert im Alter von 47 Jahren. Poulenc schreibt an einen Freund: „Die endgültige Ausgabe von ‚Les Carmélites‘ wurde in dem Moment fertiggestellt, in dem mein Lieber seinen letzten Atemzug tat.“ Ein Faktum, das der Schlussszene eine zusätzliche Dramatik verleiht.
Zur Person: Magdalena Fuchsberger
stammt aus einer Salzburger Musikerfamilie und studierte in Wien. Ihr Durchbruch war die Regie bei Verdis „Simon Boccanegra“. Fuchsberger inszenierte bereits in Graz, Linz und zuletzt Brittens „Sommernachtstraum“ in Gießen. „Dialogues des Carmélites“ ist ihr Staatsopern-Debüt. Fuchsberger lebt in Berlin.
Und noch ein Debüt – nämlich am Haus
Magdalena Fuchsberger sitzt vor einem Modell der Bühne. Sie kommt aus einer Salzburger Musikerfamilie, hat in Wien studiert, sich während der Studienzeit durch die Theater gejobbt – unter anderem hat sie die Übertitel in der Volksoper bedient. Sie grinst. „Woher wissen Sie das?“
Ihr Durchbruch war 2018 mit Verdis „Simon Boccanegra“ am Theater in Hagen. Im Februar hat sie Brittens „Sommernachtstraum“ in Gießen inszeniert. Ihr Weill in Graz wird im Spätherbst wieder ins Programm gehoben. Fuchsberger lebt in Berlin. Jetzt also die Staatsoper. Respekt hat sie. Aber keine Angst.
Wir und die Angst vor dem Tod
„Die Dramaturgie der Oper ist so wahnsinnig gut. So perfekt wie bei Verdi-Opern. Allein wie sie beginnt, ist beeindruckend. Messerscharf. Ohne Vorspiel. Und so zieht sich das Szene für Szene durch, und dabei zeigt Poulenc das Ringen um Wahrheit, um Sinn, und es geht um das Sterben, den Tod.“
Fuchsberger macht eine Pause. Nickt und redet weiter: „Ja, auch in anderen Opern wird gestorben – aber nirgendwo sonst wird so explizit über die Todesangst gesprochen. Das ist doch das Urthema der Menschheit, diese Angst vor dem Sterben, vor dem Nicht-mehr-Sein, und wenn diese Furcht überhandnimmt, so ist man kaum mehr lebensfähig. Ich glaube, dass sich Poulenc in Blanche und all den anderen Frauen wiedergefunden hat und in ihren Widersprüchen, in ihrem Kampf und mit welcher Haltung sie dem Leben und dem Tod begegnen.“
So viel sei verraten: Ein Holzkonstrukt wird auf der Bühne stehen, inspiriert vom Buch „Wohnungen der inneren Burg“ der Karmelitin und Mystikerin Teresa von Ávila, in dem sie über die „sieben inneren Wohnungen der Seele“ schreibt. Zitat: „Letztlich (…) sollen wir keine Türme ohne Fundament bauen, denn der Herr schaut nicht so sehr auf die Größe (…) als vielmehr auf die Liebe, mit der sie getan werden.“
Drehscheibe des Lebens
Magdalena Fuchsberger: „Ein Kloster hat immer zugleich etwas Wehrhaftes, aber auch Beschützendes, und diese innere Burg, wie sie Teresa von Ávila beschreibt, zeigt die Seelenzustände. Es wird, glaube ich, sehr effektvoll werden. Wir setzen eine Drehscheibe, und darauf befindet sich die ganze Welt. Es wird kein Einheitsbühnenbild sein, bei dem die Protagonist*innen von links nach rechts auftreten. Derzeit bin ich noch am Durchdenken. Ich freue mich daher schon auf die Proben, weil man dann eine Idee nach der anderen abarbeiten kann und der Kopf immer freier wird.“
Es war 2008, als Bertrand de Billy bereits einmal „Dialogues des Carmélites“ in Wien dirigierte – damals im Theater an der Wien. Fuchsberger: „Ich saß damals im Publikum und war völlig geplättet. Ich habe mir sofort den Klavierauszug und diverse Aufnahmen besorgt.“
Zur Person: Der Inhalt
Es ist die Zeit der Französischen Revolution. Blanche de la Force stammt aus einem Adelshaus. Sie wird bedroht und bittet, in ein Kloster gehen zu dürfen. Als das von den Revolutionären gestürmt wird, werden die Schwestern verhaftet. Blanche will zuerst bleiben, flieht aber dann. Währenddessen beschließen die verbleibenden Nonnen, gemeinsam in den Tod zu gehen. Blanche kehrt zurück, schließt sich den Schwestern bei ihrem Gang zum Schafott an und stirbt als Letzte.
Der Instinkt der Sänger
Fuchsberger ist ein Glücksfall für Interviewer, sie nimmt in ihrer überbordenden Begeisterung Fragen vorweg. Es ist Leidenschaft pur. „Die Musik ist ein handwerklich effektvolles Meisterwerk - in seiner ganzen Gnadenlosigkeit, in seiner ganzen Kompromisslosigkeit. Es ist viel mehr als nur ein Stück über Religion. Es ist ein Thriller. Selten hat mich ein Stück in der Vorbereitung so mitgenommen.“
Wie Barrie Kosky fordert Fuchsberger die Körperlichkeit der Sänger*innen. „Das Leben an sich ist ja so unglaublich irrational. Der Körper ist meist schneller im Spüren als der Kopf, und ich liebe Sänger*innen dafür, wie sie das instinktiv fühlen.“
Wir sind wieder zurück im vierten Stock der Wiener Staatsoper. „Dieses Stück“, sagt Nicole Car, „hat viele Fragen an uns Sänger. Etwa: Was würden wir tun? Und diese Fragen müssen wir beantworten, bevor wir auf die Bühne gehen, sonst würde das Publikum unsere Unsicherheit spüren.“
Noch hat Nicole Car keine Entscheidung getroffen. Es ist noch ein bisserl Zeit bis zur Premiere. „Ich weiß nur eines: Blanche ist sehr zerbrechlich. Aber sie weiß genau, was sie will.“