Der Direktor und sein Star
Thomas Birkmeir wurde für seine Inszenierung von „Anne of Green Gables“ mit dem Deutschen Musical Theater Preis ausgezeichnet und Victoria Hauer für ihre Darstellung der Titelrolle für den NESTROY nominiert. Wir gratulieren mit einem Doppelinterview.
„Vicki ist einfach sensationell!“ So eindrücklich kurz und bündig und antwortet Thomas Birkmeir, Direktor des Theaters der Jugend, auf die Frage, welche Vorzüge sein Ensemblemitglied denn mitbringe. „Ihre Unmittelbarkeit, die Sensibilität für szenische Vorgänge und ihre persönliche Bescheidenheit sind berührend und treffen dich mitten ins Herz. Sie strahlt auf der Bühne, und das ist nur wenigen gegeben.“ Hat eigentlich er sie entdeckt? „Nein“, sagt Victoria Hauer, „das war ganz klar Gerald Maria Bauer (Chefdramaturg des TdJ; Anm.). Bei ihm habe ich 2019 vorgesprochen, und er hat mich sofort engagiert. Thomas Birkmeir habe ich erst durch die spätere Arbeit kennengelernt. Wir haben schnell gemerkt, dass wir einander verstehen.“
Dieser stimmt nickend zu. „Gerald Maria Bauer sagte mir: ‚Die ist fabelhaft, schau sie dir mal an!‘ Ich schaute sie mir an, und es war Liebe auf den ersten Blick. Ich bin überzeugt, sie wird ihren Weg gehen.“ Victoria Hauer schätzt an der erfolgreichen Zusammenarbeit die Sicherheit und das Vertrauen, die der Intendant ausstrahle.
„Wir haben eine ähnliche Energie und Dynamik und sind uns auch in der professionellen Herangehensweise und im Geschmack ähnlich.“ Dass beide mit „Anne of Green Gables“ ihr jeweils erstes Musical gemeinsam auf die Bühne des TdJ brachten, dürfte den kollegialen Zusammenhalt noch gestärkt haben.
Preiswürdige Premiere
Die Inszenierung war im Oktober vier Mal für den Deutschen Musical Theater Preis nominiert, Thomas Birkmeir konnte die Statuette in der Kategorie „Beste Regie“ schließlich auch mit nach Hause nehmen. „Da dies das erste Musical war, das ich jemals geschrieben habe, gemeinsam mit Geri Schuller, der für die Komposition zuständig war, bedeutet mir diese Auszeichnung natürlich unendlich viel. Zudem freuen wir uns, dass wir Österreich – zusammen mit anderen – als ernstzunehmenden Musical-Standort präsentieren konnten.“
Was ist bei dieser Arbeit seiner Meinung nach besonders gut gelungen? „Sie war ehrlich. Und sie hatte hervorragende Schauspieler*innen. Deutschsprachiges Musical krankt ja leider manchmal daran, dass die Darsteller*innen sich zwar gut bewegen können und toll singen, dass aber die schauspielerische Leistung dahinter zurückfällt. Ich habe mich da sehr am englischsprachigen Markt orientiert. Die können einfach alles.“
Der schauspielerische Aspekt überzeugte auch Victoria Hauer, die zum ersten Mal überhaupt auf einer Bühne singen musste. „Bei gängigen Musicals steht oft die Show im Zentrum, bei uns hatte jede Sprechszene so viel Raum wie die Gesangs- und Tanznummern. Natürlich war das Singen vor Publikum für mich die größte Überwindung. Davor war ich eine ‚Zimmersängerin‘, die in ihren eigenen geschützten vier Wänden gesungen hat. Aber da jede*r meiner Kolleg*innen auch gesungen hat, wurde es schnell völlig normal, und die Angst ist geschwunden.“
Exklusiver Einwurf: Victoria Hauer hat mit 16 Jahren einen Schlager geschrieben oder, wie sie es ausdrückt, „in zehn Minuten hingefetzt“, der es eventuell noch zu einer professionellen Aufnahme bringen könnte. Denn bei aller Liebe zum Schauspiel hat sie nun doch auch musikalisch Blut geleckt.
Sie war für ihre Darstellung der Anne in der Kategorie „Bester Nachwuchs weiblich“ für den heurigen Nestroy nominiert. „Ich habe damit wirklich nicht gerechnet, das ist sicherlich der Höhepunkt meiner bisherigen Karriere. Und ich darf auch stolz darauf sein, dass meine Arbeit nicht nur gesehen, sondern auch geschätzt wird.“
Was lange währt …
Erwartet hätte sie eine Nominierung eher für eine Arbeit, die ob der Pandemie jedoch mehrfach verschoben werden musste und im März 2023 Premiere haben wird: Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“, wieder in der Regie des Direktors.
Was haben die erzwungenen Verzögerungen mit dem Drama gemacht? „Ich muss es teilweise umschreiben“, erklärt Thomas Birkmeir, „denn da ich das über 130 Jahre alte Stück ins Heute ziehen wollte, hätte es vor zwei Jahren ‚gestimmt‘. Jetzt haben wir eine Pandemie, einen Krieg, gesellschaftliche Unruhen in Europa, eine Generation, die teilweise weggesperrt war, und junge Menschen, die sich nicht ausleben dürfen/durften. Darauf müssen wir eingehen – ohne belehrend zu wirken. Die Jugend heute sieht die Welt völlig anders als noch vor drei Jahren.“
Victoria Hauer spielt Wendla, die junge weibliche Hauptfigur. Hatte sie ihre Rolle nun jahrelang ständig präsent? „Nein, ich bin weit weg von ihr, weil ich dazwischen andere Stücke gemacht habe. Ich habe mich in den letzten zwei Jahren natürlich auch weiterentwickelt und lege sie nun möglicherweise ganz anders an.“ Sie könne sich mit ihren 25 Jahren jedenfalls durchaus noch in eine 14-Jährige hineinversetzen. „In den Szenen mit der Mutter kommt bei mir dieses Feeling hoch, wie ich mit meiner eigenen Mutter war. Nuancen, Töne, Blicke aus dieser Zeit werden wieder präsent, und ich bin gespannt, ob mich meine Mutter darin als Teenager wiedererkennen wird.“ Davor spielt sie aktuell in „Bradley – letzte Reihe, letzter Platz“ noch bis zum 6. Dezember Colleen Verigold, eine Mitschülerin der Titelfigur.
Schonungslose Selbstkritik
Sich mit Themen zu beschäftigen, die in erster Linie Kinder und Jugendliche betreffen, gehört bei Thomas Birkmeir gewissermaßen zum Berufsbild. Seine Zielgruppe ist von den Weltgeschehnissen am stärksten betroffen, dennoch hört man ihr am wenigsten zu. Warum?
„Weil wir offensichtlich enorm ignorant sind“, lässt er keinen Zweifel. „Ich stehe immer wieder fassungslos vor dem Phänomen, dass die meisten Menschen ihre eigene Kindheit und Jugend einfach vergessen – oder vielleicht verdrängen. Anstatt dass wir fördern, fordern und in die nächste Generation investieren, vernachlässigen wir sie. Die Literatur-Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck hat einmal gesagt: ‚Kinder, die man nicht liebt, werden Erwachsene, die nicht lieben können.‘ Das sollte uns ein Mahnspuch sein.“
Wir waren zu satt, zu dumm und einfach zu ignorant.
Thomas Birkmeir, Regisseur & Direktor des Theaters der Jugend
Welchen Beitrag kann demnach Theater leisten, junge Menschen in ihren Bedürfnissen zu unterstützen? Birkmeir: „Gutes Theater an sich kann Horizonte öffnen, Gehirne zum ‚Neu-Denken‘ und Herzen zum Glühen bringen – und beide Organe im besten Fall berühren. Gutes Theater ist eine Anstiftung zum politischen Denken, auch schon für die Kleinsten. Auf jedem Pausenhof finden wir die weltpolitische Lage en miniature. Gutes Theater macht keinen Unterschied zwischen Klein und Groß. Es erreicht alle, spricht Mut zu, sich mit den Gegebenheiten nicht leichtfertig abzufinden.“
Zu diesen Gegebenheiten zählt ohne Zweifel auch der Klimawandel, dessen Aktivisten von der Generation der sogenannten Boomer dennoch lächerlich gemacht werden.
„Natürlich haben wir es verbockt und verbocken es noch. Wir waren zu wenig nachdrücklich und sahnen vermutlich noch eine angenehme Rente ab, während die nächsten Generationen mit Dürre, Wassermangel und Flüchtlingsproblemen zu kämpfen haben werden. Wir waren zu satt, zu dumm und einfach zu arrogant! Und wir werden uns nicht herausreden können“, konstatiert Birkmeir.
Zukunftsmusik
Seine Ziele sind klar: „Dieselben wie in den letzten Jahren. Wir alle am Theater der Jugend werden nicht müde, den Kindern und Jugendlichen eine Stimme verschaffen zu wollen.“
Für Victoria Hauer wird es eventuell Zeit, den nächsten Schritt zu gehen. „Es könnte gut sein, dass das mein letztes Jahr am TdJ ist, denn ich möchte ungern in so frühen Karrierejahren schon irgendwo pickenbleiben. Thomas weiß und respektiert das. Ich würde zum Beispiel wahnsinnig gerne wieder einmal einen Film drehen, was als festes Ensemblemitglied aber kaum zu realisieren ist.“