Er deutet es vorab an. „Nichts ist in Ordnung, weder in Frankreich noch Österreich“, sagt Reinhard von Nagel am Telefon. Erst beim Termin wird klar, dass seine Worte auch ihn persönlich, nicht nur das Weltgeschehen, betreffen. In seiner Werkstatt im traditionellen Handwerkerviertel Faubourg Saint-Antoine im elften Arrondissement von Paris summen keine Holzsägen. Da dringt nicht das metallische Klingen angezupfter Saiten ans Ohr. Da beugt sich niemand konzentriert über technische Pläne. Stattdessen ist da ein Mann auf einem Gehstock mit ergrauten Haaren. Vier Cembali sind ihm geblieben. Die meisten Maschinen hat er verkauft. Die Mitarbeiter („bis zu 29“) mussten gehen. Die Arbeit steht nach fast 50 Jahren still.

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Reinhard von Nagel ist nach eigener Aussage der "bunte Hund" der Kunst- und Handwerksszene in Paris. Hier sitzt er in seiner Werkstatt im 11. Arrondissement, wo er seit 1971 kunstvolle Cembali anfertigt.

Foto: Christa Minkin

Drei Jahre Wartezeit für Cembalo

Exakt 991 Cembali entstanden hier in präziser Handarbeit. Resonanzkästen wurden gehobelt, Tasten mit kunstvollen Schnitzereien versehen, Saiten eingespannt und Gehäuse aufwendig dekoriert. Die Wartezeit für Bestellungen betrug zwei bis drei Jahre. Vor der Fertigung wurden Spielart und Vorlieben der Kunden analysiert und historische Originale studiert. 20.000 bis 100.000 Euro kostet das fertige Produkt. Die Instrumente wurden in die ganze Welt verkauft – bis nach Brasilien, Taiwan oder Oman. Auch nach Österreich.

Pionier der historischen Bauweise

1971 gründete Reinhard von Nagel die Firma mit dem Amerikaner William Dowd. Damals befand sie sich noch in einer „Totenkapelle aus dem Jahr 1717“. Heute ist sie im dritten Stock eines modernen Gebäudes aus Glas und weiß gestrichenem Beton untergebracht.

Dowd galt als Pionier der historischen Bauweise. Gemeinsam begannen sie Cembali zu fertigen, die so typisch wie möglich für ihre Zeit und Landschaft sein sollten. Denn jene aus Italien waren nicht identisch mit jenen aus Deutschland, Frankreich oder England. Im 16. Jahrhundert wurden sie etwa anders gebaut als im 18. Ihr Ziel war damals wie heute, dass die Instrumente so klingen, „wie die alten Meister das wollten“, sagt von Nagel.

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Fast alle Dummheiten, die ich gemacht hatte, fielen zusammen wie Einzelteile eines Puzzles

Er selbst kam durch Zufall zu dem Beruf. 1936 in Ludwigshafen geboren und aufgewachsen, kehrte er Deutschland mit Mitte 20 den Rücken. Es verschlug ihn nach Paris, wo er in den 1960er Jahren dem kanadischen Cembalo-Bauer Hubert Bédard begegnete. Er betrieb damals eine Tischlerei und Bédard suchte jemanden für Holzarbeiten. Von Nagel wusste nichts über Cembali, aber er hatte in der Schule Geige gespielt („unbegabt“) und sich handwerklich betätigt („Ich konnte gar nichts“), auf der Uni in München im Chor gesungen („Musik war wie Luft“) und sich für modernen Tanz interessiert („Ich stand mit Klaus Kinski auf der Bühne“).

Berührungsängste mit der Musik- oder Kulturwelt hatte er also keine. „Fast alle Dummheiten, die ich gemacht hatte, fielen zusammen wie Einzelteile eines Puzzles“, sagt er über diese Zeit seines Lebens. 1972 verkaufte  er, damals noch unter dem Namen William Dowds, sein erstes Cembalo. Es habe „mehr Fehler als Hunde Flöhe“ gehabt.

Jedes Cembalo aus Reinhard von Nagels Werkstatt ist ein komplexes Kunstwerk. Hier ist ein Instrument mit zwei übereinander liegenden Klaviaturen.

Foto: Christa Minkin

Instrumente mit Persönlichkeit

Er spricht gerne in Pointen und Metaphern, gibt Anekdoten zum Besten, lässt die Namen berühmter Menschen fallen. So habe etwa Marc Chagall, der berühmte Maler, für ihn gearbeitet, und seine Frau sei mit Hollywood-Ikone Elizabeth Taylor verwechselt worden. Er selbst ist eine Erzählung, sein Leben hat er zum Narrativ gemacht. Es ist also glaubhaft, wenn er von sich sagt, er sei nicht nur bekannt, sondern gelte als der „bunte Hund“ der Musik- und Kunsthandwerksszene. Wenn er etwa zu einem Konzert geht, sei da immer jemand, der ihm vom anderen Ende des Raumes zurufe „Huhu Reinhard!“. Wer bei ihm ein Instrument kauft, wolle nicht nur den Namen, sondern auch die Person von Nagel.

Das Cembalo ist, wie das Klavier, ein Tasteninstrument, unterscheidet sich von jenem aber dadurch, dass die Saiten von sogenannten Kielen angezupft werden. Man spricht deshalb auch vom Kielflügel. Beim Klavier werden die Saiten von Hämmern angeschlagen. Es klingt also lauter je kräftiger man in die Tasten drückt. Beim Cembalo macht das kaum einen Unterschied. Es geht vielmehr um das Tempo und darum, wie Töne beim Spielen miteinander verbunden werden. Außerdem hat es oft zwei versetzt übereinander liegende Klaviaturen.

In Reinhard von Nagels Werkstatt werden sogar die Tasten der Cembali in Handarbeit geschnitzt.

Blütezeit vom 15. bis 18. Jahrhundert

Seine Blütezeit erlebte es im 15. bis 18. Jahrhundert. Wolfgang Amadeus Mozart etwa schrieb zunächst für das Cembalo. Das moderne Klavier gab es damals noch nicht. Erst seine späteren Werke entstanden für das Pianoforte, wie dieses bezeichnet wurde. Es verdrängte schließlich das Cembalo, das dann erst im 20. Jahrhundert mit dem aufkeimenden Interesse an Alter Musik wiederentdeckt wurde.

Anders als andere Handwerke, die zum Teil komplett verschwunden sind, erlebte die Cembalo-Fertigung im 20. Jahrhundert einen Aufschwung. Reinhard von Nagel sieht sich dafür gerne mitverantwortlich. Als er das Atelier 1971 mit Dowd aufmachte, sei es eines von fünf in Europa gewesen. Heute wird deren Anzahl allein in Frankreich auf mindestens 20 geschätzt. Auch in Österreich gibt es eine Handvoll. Die Nachricht, dass sie eröffnet hatten, habe sich damals „wie ein Buschfeuer verbreitet“, sofort seien die Anfragen aus ganz Europa eingetrudelt.

Von wegen Luxusgut

Warum das Klavier das Cembalo hatte verdrängen können? „Das lautere Hammerklavier hat sich besser für die Konzerte der Bourgeoisie geeignet, für die größeren Konzertsäle“, sagt von Nagel. Außerdem habe Alte Musik als „staubig“ gegolten. „Von wegen!“ Ist es ein Luxusgut? Der sonst so ruhige und bedächtig sprechende Mann, braust auf: „Nein! Es ist unabdingbar. Man kann die Musik nicht ohne das Cembalo spielen. Würden Sie über die Orgel sagen, sie sei ein Luxusgut?“

Es ist eine ungewohnt knappe Antwort von einem Mann, der sonst sehr weit ausholt. Um die Frage nach der Zukunft seines von der Corona-Krise gebeutelten Betriebes zu beantworten, beginnt er bei einer langjährigen Freundschaft. Er spannt einen Bogen über seine Kinder (16 und 18), mit denen er – nicht lange bevor sie einstürzte – über die Brücke von Genua fuhr. Und kommt dann wieder auf den Freund zu sprechen, ein italienischer Musiker, der sich symbolträchtig zwischen zwei Cembali, also zwei Flügeln, zur letzten Ruhe gebettet hatte.

Diese hinterließ er von Nagel, der sie gebaut hatte, und half ihm so finanziell über die Runden. Der Monolog schließt mit einem Zitat, das dem ersten israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion zugeschrieben wird: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“

Reinhard von Nagel gründete seine Werkstatt 1971. Seither wurden knapp 1000 Cembali gebaut.

Foto: Christa Minkin

Jedem Cembalo persönlich nachgereist

Schließlich verrät von Nagel doch noch, was er sich für die Zukunft vorstellt. Ein Ort für „Diskussionen und Forschung“ solle die Werkstatt werden. Er organisierte schon in der Vergangenheit Konzerte. Die musikalische Belebung solle jetzt aber eine noch größere Rolle spielen. Daneben soll auch weiter Unterricht stattfinden, Künstlerinnen die vorhandenen Cembali zum Einspielen oder Üben nutzen können.

Das alles hängt natürlich auch davon ab, ob und wann die corona-bedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens wieder gelockert werden können. Es sollen auch wieder Cembali gebaut – oder zumindest restauriert – werden. Doch das würden dann die Nachfolger machen. Auch die Instandhaltung wird er abgeben müssen. Früher sei er noch jedem Instrument persönlich in die ganze Welt nachgereist und habe sich darum gekümmert; dabei auch viel gelernt und sich so stetig verbessern können. Das Alter erlaubt dies nun nicht mehr.

Im Frühjahr, als sich für seine Werkstatt die Überlebensfrage stellte, schien es ihm verführerisch, den Moment zu nutzen, um aufzuhören. Doch dann habe er mit Kunsthandwerker-Freunden gesprochen. „Wenn du jetzt zumachst, hat das einen Dominoeffekt“, hätten die zu ihm gesagt. Er bleibt also offen. Und glaubt weiter an Wunder.

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