Emotionen erzählen: Wutschweiger im Vestibül
Ebenesers Eltern schrumpfen, während der Berg an unbezahlten Rechnungen immer weiter wächst. Das Stück „Wutschweiger“ – für alle ab 8 – beschäftigt sich auf sehr humorvolle und vielschichtige Weise mit dem Thema Kinderarmut.
BÜHNE: Wie entstehen Bühnen- und Kostümbild bei einem Stück wie „Wutschweiger“?
Anja Sczilinski: Unser Startpunkt war der Text von Jan Sobrie und Raven Ruëll – und meine ersten Gedanken als Regisseurin dazu. Auch der Blickwinkel, aus dem erzählt wird, spielt eine wichtige Rolle. Bei „Wutschweiger“ ist es die Perspektive von zwei Kindern, die mit dem Thema Armut konfrontiert sind. Ebeneser rutscht gerade in diesen Prozess hinein – die Situation, nicht mehr so viel zu haben wie früher, ist für ihn noch ganz neu. Deshalb waren für uns Gedanken und Bilder wie Abrutschen, Weggleiten und Orientierungslosigkeit auch in Bezug auf das Bühnenbild wichtig – aber auch die Frage, wer oder was einen in dieser Lebenssituation auffängt. Sammy kennt diesen Zustand schon besser – sie hat gelernt, damit umzugehen und ihre Nischen zu finden. Sie wird im Stück als sehr kreative, ehrliche und direkte Person beschrieben. Diese zwei Charaktere und ihre jeweiligen Lebenssituationen waren die Basis, von der aus wir ins Bühnenbild gegangen sind.
Anneliese Neudecker: Ich habe mir – auch während des Austauschs mit Anja – immer wieder Gedanken und Gefühle aufgeschrieben. Gefühle in den Raum hineinzubringen, ist mir in meiner Arbeit sehr wichtig. Über Themen wie Abrutschen, Einsamkeit, Isolation sind wir auf ein Labyrinth gekommen.
Für uns war es essentiell, das Thema Armut abstrakt auf die Bühne zu bringen – es nicht mit einem Milieu und keinesfalls klischeehaft darzustellen. Es ist eher eine Gefühlswelt, die wir zeigen möchten.
Anneliese Neudecker, Bühnen- und Kostümbildnerin
Warum genau ein Labyrinth?
Anneliese Neudecker: Es erschien uns naheliegend, weil wir es vor allem bei Ebeneser mit einer Figur zu tun haben, die sich verloren fühlt und auf der Suche ist. Deshalb gibt es im Bühnenbild auch verschiedene Ebenen und einige Schlupfwinkel, in denen man sich gut verstecken kann. Für uns war es essentiell, das Thema Armut abstrakt auf die Bühne zu bringen – es nicht mit einem Milieu und keinesfalls klischeehaft darzustellen. Es ist eher eine Gefühlswelt, die wir zeigen möchten.
Anja Sczilinski: Wir spielen in der Inszenierung auch damit, dass man Emotionen über verschiedene Elemente erzählen kann, beispielsweise nur über die Füße. Daher gibt es in unserem Bühnenbild auch einige Ausschnitte, durch die man nur bestimmte Körperteile sehen kann.
Wie sieht diese Abstraktion noch aus?
Anja Sczilinski: Ebeneser hat eine unglaubliche Fantasie und versucht damit Dinge, die für Kinder eigentlich nicht erklärbar sind, zu erfassen. Ein gutes Beispiel ist, wie seine Eltern in seiner Vorstellung schrumpfen. Je größer der Stapel an Rechnungen wird, desto kleiner werden die Eltern. Auch diese Umkehr möchten wir im Bühnenbild zeigen.
Anneliese Neudecker: Neben dieser Abstraktheit war es mir auch wichtig, den Humor, der in diesem Text und in den Figuren steckt, zu zeigen. Der Raum soll auf gar keinen Fall ein Gefühl von Tristesse erzeugen.
Die Gefahr, in Klischees oder eine traurige Grundstimmung abzugleiten, ist bei so einem Thema sehr groß …
Anja Sczilinski: Natürlich haben wir auch darüber gesprochen, welche Bilder man beim Thema Armut sofort im Kopf hat – zerrissene Kleidung zum Beispiel. Aber ist es im Grunde nicht eher so, dass man, wenn man nicht so viel hat, viel sorgsamer mit den Dingen umgeht, die man hat? Das würde das eben angesprochene Klischeebild aushebeln. Oder man entwickelt im Umgang mit den Sachen, die man besitzt, einen besonders kreativen Umgang – wie es Sammy beispielsweise tut, die auf diese Weise ihre Kreativität auslebt. Deshalb möchte ich sie auch auf keinen Fall als Opfer zeigen, sondern vielmehr als Figur, die sich auf sehr starke und kreative Weise durch diese Welt bewegt.
Anneliese Neudecker: Für mich war deshalb ein wichtiges Motto, dass Not erfinderisch macht. Und man merkt auch, dass sich Sammys Kreativität nach und nach auf Ebeneser überträgt.
Als Regisseurin muss ich mir den Raum, den wir uns in unserer Fantasie erschaffen haben, mit den Spieler*innen erobern. Dabei findet man immer wieder Möglichkeiten, an die man vorher nicht gedacht hat.
Anja Sczilinski, Regisseurin
Eure Zusammenarbeit ist vermutlich von permanentem Austausch geprägt …
Anja Sczilinski: Seit wir begonnen haben, dieses Stück zu bearbeiten, sind wir in permanentem Austausch darüber. Das beginnt bei Fotos, die wir einander schicken, bis hin zu ersten Entwürfen und Ideen für Veränderungen. Nach der Abgabe des Bühnenbildmodells gibt es eine Bauprobe und es wird ein Bühnenbild gebaut. Für mich als Regisseurin geht damit ein neuer Prozess los – ich muss diesen Raum, den wir uns in unserer Fantasie erschaffen haben, mit den Spieler*innen erobern. Dabei findet man immer wieder Möglichkeiten, an die man vorher nicht gedacht hat.
Anneliese Neudecker: Genau. Nach dieser ersten Zeit des kreativen Austobens baue ich ein Bühnenbildmodell, das ich dann gemeinsam mit Plänen präsentiere. Nachdem geklärt wurde, ob das Bühnenbild technisch und finanziell machbar ist, gibt es eine Bauprobe und es wird provisorisch aufgebaut. Nach der Werkstattabgabe ist das Bühnenbild sozusagen durch. Das bedeutet aber nicht, dass gar keine Veränderungen mehr möglich sind.
Anneliese, du bist bei dieser Inszenierung für Bühnenbild und Kostümbild verantwortlich. Was bringt das für Vorteile mit sich?
Anneliese Neudecker: Ich mag daran, dass man schon beim Lesen des Texts die Figuren im Raum mitdenkt. Und auch die Farbgestaltung. Gerade im kleineren Rahmen, wenn es nur wenige Figuren gibt, macht es mir sehr viel Spaß, beide Bereiche abzudecken, weil es mir die Möglichkeit gibt, mit sehr viel Liebe zum Detail an die Sache heranzugehen. Ich bin an den Figuren noch näher dran, als wenn ich nur das Bühnenbild gestalte.
Wann hat sich bei dir abgezeichnet, dass du in diese Richtung gehen möchtest?
Anneliese Neudecker: Mit 17, kurz vor der Matura. Ich habe viel gemalt und wollte immer schon in eine künstlerische Richtung gehen. Auch Architektur hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt gut vorstellen können, das war mir schlussendlich aber doch zu technisch. Irgendwann habe ich bemerkt, dass Bühnenbild sehr viele unterschiedlichen Kunstrichtungen vereint.
Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit bei Kostüm- und Bühnenbild?
Anja Sczilinski: Im gesamten Burgtheater ist man sehr darum bemüht, das Thema Nachhaltigkeit noch stärker voranzutreiben. Das erklärte Ziel lautet, sich nach dem Umweltmanagementsystem EMAS zertifizieren zu lassen. Diese Bemühungen und Maßnahmen betreffen natürlich auch die Bereiche Bühnenbild und Kostümbild. Dinge, die im Rahmen der Bauprobe gebaut werden, weiterzuverwenden, spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Bühnenbilder*innen sind auch dazu eingeladen, in den Fundus zu schauen und zu überprüfen, ob es dort Dinge gibt, die sie benützen können. Auch beim Kostüm handhaben wir das so. Bei „Ich, Ikarus“ im Vestibül wurden fast ausschließlich Elemente für die Bühne verwendet, die davor bereits bei anderen Produktionen zum Einsatz kamen.