In fünf Tagen bist du tot
Eine männermordende Wohngemeinschaft mitten in Margareten: Christine Gaigg lädt im Volx zu einer immersiven Begegnung mit Rudolf Thomes 1970 erschienenem Kultfilm „Rote Sonne“.
Der erste Aufprall auf dem harten Boden der Realität lässt Nestflüchter das Wort Gemeinschaft meist neu denken. „Geteiltes finanzielles Leid ist halbes Leid“, lautet fortan das Credo. Oder in einem Wort zusammengefasst: Wohngemeinschaft. Außerdem: Pizzakartons, WG-Partys, Polizeibeamte auf der Türmatte und Tellertürme in der Küche. Unbeabsichtigte One Minute Sculptures könnte man diese auch nennen, um dem Szenario den für dieses Magazin angemessenen künstlerischen Anstrich zu verleihen. Darüber hinaus geht es aber natürlich auch um gemeinsame Abendessen und Filmabende, Streicheleinheiten gegen Liebeskummer und die Unmöglichkeit, zu viele Nudeln zu kochen.
In „Rote Sonne“, dem 1970 erschienenen Kultfilm von Rudolf Thome, kommt ein weiterer durchaus gemeinschaftsstiftender Aspekt hinzu: Jeder Mann, der länger als fünf Tage im Leben einer der vier WG-Bewohnerinnen bleibt, wird umgebracht. Danach gehen die jungen Frauen wieder ihren alltäglichen Beschäftigungen nach.
Thomes Film als Folie
Christine Gaigg, Choreografin, Regisseurin, Autorin und frühere Filmkritikerin, macht Thomes Film zum Ausgangspunkt ihrer kommenden Produktion im Volx, der Dependance des Volkstheaters in Margareten. Es gehe ihr aber keinesfalls darum, einfach den Inhalt des Films nachzuspielen, erklärt sie gleich zu Beginn unseres Gesprächs, das mitten im Bühnenbild ihrer ersten gemeinsamen Arbeit mit dem Volkstheater stattfindet. Wobei sich das kaum vermeiden lässt, denn Gaiggs „Rote Sonne“ lässt keinen Winkel des Theaters unberührt. Doch dazu gleich mehr.
„Für mich funktioniert der Film wie eine Folie, die uns dabei hilft, über das Verhältnis zwischen Täter und Opfer nachzudenken“, führt sie weiter aus. Auch auf musikalischer Ebene, der in „Rote Sonne“ ebenfalls eine große Bedeutung zukommt: Der Musiker Peter Plessas hat für das Stück ein Orchesterwerk von Bernhard Gander bearbeitet, das wiederum eine Fortschreibung des Strawinsky-Werks „Le sacre du printemps“ ist. „Bei Strawinsky wird eine Jungfrau geopfert, in der Gander-Fortschreibung kommt sie zurück und mordet Männer“, erklärt Christine Gaigg. Passt also wie die Faust aufs Auge. Oder wie das Messer an die Kehle, um beim Thema der Produktion zu bleiben.
Wenn auch nicht vordergründig, spiele außerdem die weibliche Sexualität eine große Rolle. Damit reihe sich „Rote Sonne“ gut in den Kosmos ihrer 30-jährigen Performance- und Tanzkarriere ein. „In der öffentlichen Diskussion wird die weibliche Sexualität gerne mit einer Opferrolle assoziiert. Ich versuche diese in meinen Arbeiten zu durchbrechen“, ergänzt sie.
Produktive Durchmischung
Durchbrochen wird in „Rote Sonne“ auch die Trennung von Publikum und Darsteller*innen. Jede Ecke des Theaters wird bespielt, das Publikum verteilt sich im Bühnenbild, das an die eingangs angesprochene WG-Situation erinnert. Diese Durchmischung habe auch positive Auswirkungen auf den Probenprozess, kann Christine Gaigg schon nach wenigen Probentagen sagen. „Weil sich innerhalb dieses Settings auch die verschiedenen Gewerke durchmischen, entsteht eine große Offenheit. Eine Atmosphäre, die es ermöglicht, dass alle etwas sagen können und auch allen zugehört wird.“
Evi Kehrstephan, als Schauspielerin Teil der Produktion, kann dem nur beipflichten. „Es ist ein respektvoller, wertschätzender und liebevoller Umgang“, bringt sie ihre ersten Eindrücke auf den Punkt. Das ist auch deshalb wichtig, weil nicht bloß ein Konzept abgearbeitet wird, sondern der Prozess sich gerade anhand der Gespräche und Diskussionen während der Proben entwickelt.
Theater als Teamsport
Der Grundstein für die gemeinsame Reise, eine solide Vertrauensbasis, wurde also rasch gelegt. Mit der Ungewissheit, die dennoch bleibt und zum Theater einfach dazugehört, kann Evi Kehrstephan gut umgehen. „Wenn ich das Gefühl habe, dass es ein gutes Schiff ist, bin ich total schnell mit an Bord“, sagt sie lachend.
Auch bei „humanistää!“, der jüngst mit Preisen überhäuften Volkstheater-Inszenierung von Claudia Bauer, sei es am Anfang so gewesen, dass niemand so recht wusste, wohin das Schiff genau steuert, erinnert sich die Schauspielerin, die schon unter Anna Badora zum Volkstheater-Ensemble gehörte.
Es bedeutet uns viel, uns immer nur gemeinsam zu verbeugen.
Evi Kehrstephan, Schauspielerin
Dass die Produktion letztendlich so große Erfolge einfuhr, habe von vielen verschiedenen Faktoren abgehängt, ergänzt sie. Auch von der Zusammenarbeit auf, hinter und unter der Bühne. Das Ensemble selbst beschreibt sie als sehr kraftvoll. „Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen mit an Bord sind, die einfach Lust auf Zusammenarbeit haben“, fügt sie hinzu. „Es ist zwar von außen betrachtet nur eine kleine Sache, aber es bedeutet uns unglaublich viel, dass wir uns immer nur gemeinsam verbeugen.“ Theater als Teamsport, lautet die Devise im Theater am Arthur-Schnitzler-Platz 1.
Diesen Teamspirit spüren Evi Kehrstephan und Christine Gaigg auch nach wenigen Probentagen schon bei „Rote Sonne“. Vier Schauspielerinnen werden mit einem Tänzer zusammenarbeiten, wobei es nicht so sein wird, dass der Tänzer nur tanzt und die Schauspielerinnen nur sprechen, wirft Gaigg ein. „Alle haben dieselben Aufgaben.“
Halbe Miete
Auch wenn es die Biografie der Regisseurin im ersten Moment vielleicht vermuten lässt, sollte man sich bei „Rote Sonne“ keinesfalls „puren Tanz“ erwarten. Dass sie keinerlei Berührungsängste gegenüber Text und gesprochener Sprache hat, stellte Gaigg schon mehrfach unter Beweis – unter anderem bei ihrer Inszenierung von Elfriede Jelineks „Über Tiere“ in Zürich. „Meine Herangehensweise ist trotzdem choreografisch, da ich sowohl von einer Dynamik zwischen den Körpern als auch von einer Spannung zwischen den Körpern und den verschiedenen Spielorten ausgehe. Mehr als von einer psychologischen Figurenzeichnung, die es im Film aber auch nicht gibt.“
Um nochmals zum Anfang zurückzukommen: Scheint so, als wäre ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl auch am Theater die halbe Miete. Minus Tellerturm und Pizza, versteht sich.
Zur Person: Evi Kehrstephan
Die gebürtige Nürnbergerin studierte Schauspiel am Max Reinhardt Seminar in Wien. Es folgten Engagements an den Kammerspielen Landshut, am Ernst Deutsch Theater Hamburg, am Stadttheater Klagenfurt und am Schauspielhaus Graz. Seit 2017/18 gehört Evi Kehrstephan zum Volkstheater-Ensemble.
Zur Person: Christine Gaigg
Die Choreografin, Regisseurin und Autorin realisiert unter dem Label „2nd nature“ choreografische Arbeiten an den Schnittstellen zu Neuer Musik, Theater, Film und Literatur. 2010 eröffnete sie im Kollektiv den steirischen herbst mit „Maschinenhalle #1“. Ihre jüngsten Projekte verschreiben sich der selbstbestimmten weiblichen Sexualität.