Ihr 1926 uraufgeführtes Stück „Fegefeuer in Ingolstadt“ bezeichnete Marieluise Fleißer als Text „über das Rudelgesetz und über die Ausgestoßenen“. Es sei, so die Autorin, „von jungen Menschen erlebt, die suchen müssen und noch lange nicht finden, die in die Irre laufen bis zur Todessehnsucht hin und da ist keiner, der ihnen helfen kann“. Von den Rudelgesetzen des Burgtheaters haben Dagna Litzenberger Vinet, Jonas Hackmann, Julian von Hansemann, Maximilian Pulst und Lukas Vogelsang, allesamt neu im Ensemble, noch nicht allzu viel mitbekommen.

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Eines können sie aber jetzt schon sagen: Anders als die Figuren in Fleißers Stücken „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“, die Regisseur Ivo van Hove zu einem Theaterabend zusammenzurrt, fühlen sie sich in ihrem neuen beruflichen Mikrokosmos gut aufgehoben. Wobei der so „mikro“ ja eigentlich gar nicht ist. „72 Ensemblemitglieder sind es“, hat Dagna Litzenberger Vinet erst kürzlich auf der Website des Burgtheaters nachgezählt. Als angsteinflößend oder gar abschreckend empfinden die neuen Ensemblemitglieder, die wir an einem fast schon sommerlich heißen Frühlingstag nach der Probe im Arsenal treffen, die Größe des Hauses aber nicht. „Mich interessiert, wie das gruppendynamisch funktioniert“, wirft der in Hannover geborene Schauspieler Julian von Hansemann ein. Nach einer kurzen Pause fügt er lachend hinzu: „Ich stelle mir das ein bisschen wie bei einem Familienfest vor, bei dem man immer wieder neue Tanten und Onkeln zweiten Grades trifft.“

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Foto: David Payr

Zur Person: Maximilian Pulst

Studierte zunächst Automatisierungssysteme und Kultur- und Medienpädagogik, später Schauspiel an der Folkwang Universität der Künste. Vor seinem Engagement am Burgtheater gehörte er zum Ensemble des Staatstheaters Nürnberg. 

Die Absurdität des Menschseins

Nicht alleine der oder die Neue zu sein, sondern gemeinsam in „Ingolstadt“ auf der Bühne zu stehen sei sehr angenehm, sind sich die fünf Schauspieler*innen einig. Weil die Produktion ja zuerst bei den Salzburger Festspielen und dann erst am Burgtheater gezeigt wird, hat die gemeinsame Arbeit fast etwas von einer Klassenfahrt, ergänzt Maximilian Pulst. „Das schweißt uns entweder total zusammen oder treibt uns auseinander“, fügt er lachend hinzu. So wie die fünf Neo-Wiener*innen im Gespräch miteinander interagieren, ist man sich rasch sicher, dass eher Ersteres der Fall sein wird. Über den Wechsel nach Wien mussten sie alle nicht lange nachdenken. Wobei Lukas Vogelsang ohnehin nicht die Zeit dafür gehabt hätte. „Ich hatte mein Vorsprechen drei Tage vor Probenbeginn für ‚Ingolstadt‘, daher war das Ganze sehr spontan. Aber auch wenn mehr Zeit gewesen wäre, hätte ich auf jeden Fall zugesagt“, erinnert sich der gebürtige Bochumer.

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Foto: David Payr

Zur Person: Dagna Litzenberger Vinet

Die in Amerika geborene Französin wuchs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz auf. Nach einem Philosophiestudium in Paris studierte sie Schauspiel an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Ihr erstes Engagement führte sie ans Schauspielhaus Zürich. 

Mit „Ingolstadt“ führt das Burgtheater das mit Maria Lazars Einakter „Der Henker“ begonnene Bestreben fort, Werke von Autorinnen auf die Bühne zu bringen, die aus dem Dramenkanon verschwunden sind. „Pioniere in Ingolstadt“, das unter dem Einfluss von Bertolt Brecht entstand, verursachte bei seiner Uraufführung 1929 einen Theaterskandal. In beiden Stücken, fasst Julian von Hansemann zusammen, „geht es um den Wunsch, aus festgesetzten Normen auszubrechen, und um den Versuch, Freiheit zu finden, der in den meisten Fällen aber scheitert. Es wird klar gezeigt, dass man am Ende immer in dem Kreis landet, aus dem man auszubrechen versucht". Dagna Litzenberger Vinet freut sich schon sehr darauf, in der Probenarbeit noch mehr über den Kampf der Frauen zur Zeit Fleißers und mögliche Aktualitätsbezüge zu erfahren. „Alma, meine Rolle, hat ein großes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit. Dass dieser Aspekt Gewicht bekommt, ist Ivo van Hove sehr wichtig.“

Obwohl Marieluise Fleißer „Pioniere in Ingolstadt“ als Komödie bezeichnete, haben die Figuren in dem Stück nicht allzu viel zu lachen. „Vielleicht wäre Groteske eine passendere Bezeichnung“, überlegt Maximilian Pulst und macht das unter anderem an der Sprache fest, die fast schon wie eine Kunstsprache anmutet. „Es geht nicht um Pointen, sondern immer um die Absurdität des Menschseins.“

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Foto: David Payr

Zur Person: Jonas Hackmann

Absolvierte seine Schau­spielausbildung am Thomas Bernhard Institut des Mo­zarteum Salzburg. In seinem letzten Ausbildungsjahr spielte er am Düsseldorfer Schauspielhaus. Ab 2020 arbeitete er als freier Schauspieler und gastierte u. a. am Theater Münster.

Konzentration und Klarheit

In der Inszenierung von Ivo van Hove wechseln sich große Massenszenen mit intimen Momenten ab, erklärt Lukas Vogelsang. Die Zusammenarbeit mit dem in Belgien geborenen Regisseur sei außerdem von einer großen Klarheit und einer besonderen Form der Reduziertheit geprägt, wie Julian von Hansemann anmerkt. „Der Bühnen- und Probenraum hat fast schon etwas Sakrales“, fügt Maxmilian Pulst hinzu. „Es geht konzentriert nur um die Sache, und das wird sich hoffentlich auch so übertragen". Dagna Litzenberger Vinet ergänzt: „Durch diese Form der Arbeit bekommt jeder Moment, egal, wie groß oder klein er ist, eine Wichtigkeit.“

Und obwohl Marieluise Fleißers Ingolstadt von vielen jungen Menschen bevölkert ist, „die suchen müssen und noch lange nicht finden“, bleibt doch ein Funken Hoffnung. Schließlich heißt es in „Pioniere in Ingolstadt“ auch: „Wenn man sucht, findet man immer was.“

Bei Dagna Litzenberger Vinet, Jonas Hackmann, Julian von Hansemann, Lukas Vogelsang und Maximilian Pulst scheint es jedenfalls so zu sein, dass sie einander gesucht und gefunden haben. Und mit dem Burgtheater zudem einen Ort, an dem man immer wieder auf die Suche nach sich selbst geht. Im besten Sinne, versteht sich.

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Foto: David Payr

Zur Person: Zu den Personen: Lukas Vogelsang & Julian von Hansemann

Lukas Vogelsang sammelte schon während der Schulzeit erste Theatererfahrungen in Jugendclubs des Bochumer Schauspielhauses. Von 2019 bis 2022 absolvierte er sein Schauspielstudium am Salzburger Mozarteum. Nach dem Schauspielstudium in Frankfurt wurde Julian von Hansemann ans Staatstheater Mainz engagiert, wo er u. a. mit Jan-Christoph ­Gockel und Friederike Heller zusammenarbeitete.