„… Weißt du, ich werde den sechzehnten Abschnitt mit einem Wort beginnen, an dessen Anfang ein A steht, du gibst mir doch recht, es geht nicht anders … wie sollte es anders gehen …“ – Sie sagte nicht ihren Namen, sie fragte nicht, wo ich gerade bin, was ich gerade mache, ob ich Zeit habe, mit ihr über ihre Literatur zu sprechen, sie redete am Telefon einfach laut dort weiter, wo sie zuvor im Stillen gedacht hatte. – Das war Marianne Fritz.

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Geschichte und Politik in poetischer Form

Ich kannte sie sehr lange. Sie lebte damals mit ihrem Mann Wolfgang Fritz in Feldkirch in Vorarlberg. Wir drei waren eine Zeitlang sehr eng befreundet, und noch heute, wenn ich Wolfgang treffe, wärmt uns die Erinnerung an diese Nähe die Brust. Wir diskutierten über die Weltrevolution, jedenfalls Wolfgang und ich, Marianne hielt sich bei diesen Themen – den unmittelbar politischen Themen – zurück. Aber das ist ja gar nicht richtig gesagt! Sie dachte politischer als Wolfgang und ich, aber eben in einem großen historischen und poetischen Zusammenhang. Was das bedeutete, verstand ich damals nicht. Ich war zwanzig, Marianne ein Jahr älter als ich. Dass man Geschichte und Politik in eine poetische Form bringen kann, dass so etwas überhaupt möglich ist, das zeigte uns Marianne erst, als ihre Bücher erschienen.

Marianne Fritz ließ sich nur selten fotografieren und gab kaum Interviews. Ihr ging es einzig um das Schreiben.

Foto: Digne Meller Marcovicz

Der Roman „Dessen Sprache du nicht verstehst“ – ihr dritter nach „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ und „Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani“ – ist ein unwiederholbares Zeugnis dafür, dass Weltgeschichte in Poesie verwandelt werden kann. Der Roman hat fast dreitausend Seiten, aber seine Sprache ist so dicht wie ein Prosagedicht von Stéphane Mallarmé. Diese Konzentration auf einen Kern kennen wir von Werken, die fünfzig, sechzig Seiten umfassen, aber nicht von einem Epos dieses Umfangs – man müsste bis Homer zurückschauen oder bis zur „Göttlichen Komödie“ von Dante. Ich weiß nicht, wie viele Jahre Marianne daran geschrieben hat, aber ich weiß, um dieses Werk auszuloten, braucht ein Leser mehr als ein Leben.

„Die Festung“

Das Werk von Marianne Fritz steht als ein Solitär in der deutschsprachigen Literatur. Manche werden nun die Augenbrauen hochziehen, aber ich stelle „Dessen Sprache du nicht verstehst“ über den „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Die beiden Bücher lassen sich durchaus miteinander vergleichen. Beide kreisen um den Untergang eines großen Reiches, das sich als eine menschheitsgeschichtliche Festung behauptete, die, gehalten von einem göttlichen Willen, nicht untergehen konnte – und doch unterging. In Mariannes Buch ist es die Geschichte der Familie Null aus der Gemeinde Nirgendwo, sie wird erzählt in einer Form, in der sich biblische Gleichnishaftigkeit, lyrisch-hymnische Erhabenheit ebenso zu einem Ganzen fügen wie historisch detaillierter Hintergrund und barockes Welttheater.

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Auch wenn jetzt jene, die erst die Augenbrauen gehoben haben, empört Luft ausstoßen, sage ich es doch: Musil ist gescheitert. Er ist gescheitert, weil er meinte, den übergroßen Stoff mit realistischen Mitteln allein bewältigen zu können. Sein Werk bricht unter der mythischen Last des Stoffes zusammen.

Dem Mythos kommt man nur mit dem Mythos bei. Tatsächlich nannte Marianne Fritz ihr Lebenswerk „Die Festung“. Der Plan war ein Romanzyklus, in dem die ersten drei Romane den Anfang bildeten, gefolgt von dem Mammutwerk „Naturgemäß I“ und „Naturgemäß II“. Marianne Fritz war eine liebende, sorgfältige Freundin. Sehr empfindlich war sie, das Sausen der „geschäft’gen Welt“, von der auch Eichendorff, ein anderer Einsiedler der Literatur, sich abgewendet hat, der Lärm war ihr unheimlich. Nur sehr selten verließ sie ihre Wohnung im siebten Wiener Gemeindebezirk.

Sie hatte gute Freunde, die für sie einkauften und die gewünschten Bücher aus der Nationalbibliothek holten und zurückbrachten. Ihre Wohnung war ihr Arbeitsplatz, alles unterwarf sie der Arbeitsdisziplin. Zwei Kugelkopfschreibmaschinen besaß sie, falls eine kaputtging, dass sie keine Zeit verlöre. Dieses Werkzeug mit seinem bösen Klack! hat ihr schließlich das Gehör kaputtgemacht. An den Wänden waren Regale voll mit Aktenordnern ihrer Recherchen. Ein Riesenwerk war ihr aufgegeben, sie konnte keine Zeit haben für etwas anderes.

Das Geschenk weitergeben

Nein, sie hat sich nie erkundigt, wie es mir geht, weder am Telefon, noch wenn wir uns in ihrer Wohnung trafen. Sie hat von ihrer Arbeit erzählt, und sie hat erzählt, als würde sie dieses Werk mir zum Geschenk schaffen. Und das war mehr als alle Phrasenfragen nach dem Wohlergehen, viel mehr. Wenn sie erzählte, blickte sie mich an, in ihren Augen war so viel Begeisterung und Liebe. Auch wenn sie das nicht zugegeben hätte, sie glaubte wohl daran, dass sie – von welcher transzendenten Institution auch immer – über Gebühr bevorzugt wurde. Sie, die forderte, es müsse Gerechtigkeit geschaffen werden, denn vorgefunden werde sie nicht, sie, die Erwählte, wollte das Geschenk weitergeben. Nicht an eine anonyme Leserschaft, nicht an besserwisserische Kritiker oder schmeichlerische Literaturprofessoren, sondern an einen Menschen, einen einzigen – wer immer das auch sein mochte. Wenn ich in ihrer Küche saß und ihr zuhörte, während sie Nudeln kochte und während wir aßen – sie nur sehr wenig –, dann war ich dieser Mensch.

Am 1. Oktober 2007 starb Marianne Fritz. Sie wurde achtundfünfzig Jahre alt. In einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof wurde sie beigesetzt. 2014 wurde ein Park in Wien-Neubau nach ihr benannt. Unsere Gespräche vermisse ich sehr – auch die Telefonate, bei denen ich nicht selten eine Stunde lang nicht ein Wort sagte.

Das Akademietheater hat in dieser Saison ihren ersten Roman, „Die Schwerkraft der Verhältnisse“, für die Bühne bearbeitet und unter der Regie von Bastian Kraft zur Aufführung gebracht. Und das Stadt Theater Wien veranstaltet seit 2002 unter dem Namen „Fritzpunkt“ eine Reihe mit Vorträgen, Aufführungen und Lesungen zum Werk von Marianne Fritz.

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou