„Die Leut’ haben mich immer wollen – ich hab mir mein Publikum erliebt“
Warum er oft missverstanden wurde, nie Direktor werden wollte und welche Regisseurin ihn unbedingt anrufen sollte: Michael Heltau, Doyen des Burgtheaters, im Gespräch über Glück, Regietheater und sein Publikum.
Ein Nachmittag im Frühling. Bühneneingang Burgtheater. Vor dem Haus sitzt Marcel Heuperman und bewegt lautlos seine Lippen – er rezitiert einen Text. Bless Amada, mit großem Kopfhörer abgeschirmt von der Welt, genießt die Sonne. Und plötzlich ist er da, Panamahut am Kopf, petrolfarbener Anzug, weißes Hemd und Sneakers. So flott ist er unterwegs, dass er fast schon wieder an uns vorbeigewieselt wäre. „Herr Heltau …?“
Treffen mit dem Doyen des Wiener Burgtheaters ebendort. 89 Jahre ist er alt, nein, alt ist er – wenn man daran glaubt, dass Alter nur im Kopf stattfindet – nicht. „Jö, schau, fein, dass ihr gekommen seid. Ich freu mich sehr“, sagt er. „Kommts mit. Ist alles schon organisiert.“
Im Gehen dreht er sich um zu Lukas Gansterer, unserem Fotografen: „Ich mag Ihren Stil. Er ist so unösterreichisch, so international.“ Als der verblüfft schaut, lächelt Heltau und sagt: „Sie haben ja wohl nicht geglaubt, dass ich nicht weiß, mit wem ich es zu tun krieg. Ich war immer schon gut vorbereitet.“
Chansons, Wienerlieder, Shakespeare
Das Lächeln wird zu einem feinen Schmunzeln. Wir gehen an offenen Büros vorbei. Bei jedem bleibt Michael Heltau stehen, grüßt, wechselt ein paar Worte. Die Menschen freuen sich, ihn zu sehen, und wir freuen uns, dass wir in seinem Schlepptau durchs Burgtheater gehen. Dass wir ihn treffen dürfen, ist für uns eine Ehre. Die richtige Einstiegsfrage zu stellen eine Herausforderung. Der Respekt ist ehrlich gesagt ziemlich groß. Heltau ist einer der wenigen Künstler, die nicht durch die zeitliche Entfernung zu ihrem Schaffen cool wurden. So wie ABBA oder Dolly Parton oder Dagmar Koller. Er war es immer. Er hat Jacques Brels Chansons zu Wienerliedern gemacht und Wienerlieder gesungen, als wären sie Chansons. Michael Heltau hat Shakespeare gespielt und Schnitzler und in Fünfzigerjahrefilmen, die so seicht waren, dass nicht einmal ein Zwergpinscher darin ersoffen wäre – aber durch Heltau wurden sie schön und berührend und unterhaltend.
Bitte sagen Sie uns: Alle mögen Sie – wie machen Sie das?
Das hat mich der Claus Peymann auch einmal gefragt: „Heltau, was haben Sie gemacht, dass Sie hier so beliebt sind?“ Und ich habe darauf gesagt: „Ich hab’ hier nie etwas von Ingolstadt erzählt! Ich habe mir mein Publikum erliebt.“ Und ich bin den Menschen nie fad geworden. Das lag auch daran, dass ich dazwischen immer weg war und nicht alles gespielt habe. Ich hab ja viel mehr abgesagt als zugesagt, und ich habe auch nie über meine Wirkung auf die Menschen nachgedacht. Ich bin auf viele Sachen hereingefallen, auch auf Menschen. Aber auf mich selber bin ich nie hereingefallen. Niemals.
War es schwierig, zu dieser Erkenntnis zu gelangen?
(Lacht.) Ich habe sehr früh an der Josefstadt gespielt, und ich war echt beschissen, weil ich hochmütig war. Ich fand die Komödien, die damals dort gespielt wurden, als zu minder, weil ich Schiller spielen wollte – und ich war zum Abschießen.
Wer dem Leben nicht zuschaut, kann in keinem Beruf wirklich gut sein.
Michael Heltau
Aber dann kam der Tag, als Peter Arens nicht kam und Sie den Orlando in „Wie es euch gefällt“ spielen durften.
Ich wurde gefeiert wie eine Neuentdeckung, so, als hätte es den Mist, den ich bis dahin gemacht hatte, nie gegeben. Der wunderbare Leopold Rudolf hat schon bei den Proben gesagt: „Das wird was.“ Und nach der Premiere hat er gemeint: „Gell, es ist besser von oben nach unten zu spielen als von unten hinauf.“ Meine Einstellung hat damals gepasst, auch das ganze Team. Ich hab so vieles nicht gespielt, wenn die Konstellation nicht gepasst hat, ich bin dann immer weg, immer ohne Geld. Ich hatte dann manchmal ein paar Monate, in denen ich nichts verdient habe, aber ich bin mir treu geblieben.
Am Burgtheater hat man mir gesagt: „Wenn Sie jetzt weggehen, werden Sie nie wiederkommen.“ Und ich hab gesagt: „Na, dann ist es halt so.“ Es wurde ja in den vergangenen Jahren sehr viel über Risikopatienten gesprochen. Ich sage immer: „Ich bin ein Risikopatient seit dem 5. Juli 1933.“ In dem Moment, in dem du auf die Welt kommst, lebst du ohne Netz – das wissen wir doch alle, das erleben wir doch jeden Tag. Dann stellt sich die Frage: Was kann man da machen? Meine Antwort ist: ordentlich arbeiten. Es geht ja nicht darum, dass man sich als Schauspieler fragt: „Wie komme ich da unten beim Publikum an?“
Es ist Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, wie man mich findet. Ich habe meinen Ehrgeiz darin gesetzt, dass meine Arbeit, meine Vorbereitung mich mit dem Text, mit der Rolle eins werden lässt. Ich bin ein ziemlich guter Koch, aber manche Sachen mache ich nicht – vielleicht hat mich das auch oft vor Unsinn verschont. (Heltau macht eine kurze Pause.) Natürlich war das irgendwo auch mein Charme. Andererseits: Ich bin auch oft missverstanden worden aufgrund meiner Freundlichkeit.
Und was ist dann passiert, wenn Sie missverstanden wurden?
Freundlich sein bedeutet ja nicht, dass man keine Meinung hat. Es gab Proben, in denen ich zum Regisseur gesagt habe: „So geht das nicht, und wenn du willst, dann treffen wir uns beim Direktor.“ Ich galt als schwierig, war aber in Wirklichkeit gewissenhaft. Ich hab alles immer sehr gern gemacht, denn bei Lichte gesehen haben wir einen wunderschönen Beruf – da sterben keine Menschen, höchstens kostbare Ideen.
Gibt es eine goldene Regel für Ihren Beruf?
Ja. Langweile niemals. Punkt.
Warum spielen Sie nicht mehr?
Sagen Sie mir doch, was ich spielen soll?
Wäre ich Burgtheaterdirektor, würde ich sagen: „Was Sie wollen – wär eh ausverkauft.“
Sehen Sie, ich habe alles gespielt. Der Giorgio Strehler wollte, dass ich den König Lear spiele. „Miki“, hat er mich gefragt, „was denkst du über den König Lear?“ Dann ist Strehler gestorben, und ich habe das als Zeichen verstanden.
Wenn aber morgen Ariane Mnouchkine anrufen würde, die Sie sehr mögen …
(Er lacht laut auf.) … dann würde ich sofort zusagen, egal was ich spielen sollte. Ich mag ihre Zärtlichkeit.
Sie haben mir einmal gesagt, dass es am Ende des Tages um die Glücksbröckerln des Lebens geht.
Ja. Es geht um Zärtlichkeit und um die Glücksbröckerln. Gehen Sie raus, und suchen Sie sie.
Glauben wir niemandem, der von ‚großen Zeiten‘ spricht. Große Zeiten waren auch immer sehr klein.
Michael Heltau
Wollten Sie eigentlich nie Direktor werden oder Regie führen?
Ich sollte oft Direktor werden, an der Burg, an der Josefstadt und am Theater an der Wien, aber dann hätte ich mich bei Besetzungen gegen liebe Kollegen entscheiden müssen. Regie hab ich auch nie führen wollen. Regisseure sind arm. Puppenspieler mit echten Menschen. Ich wollte immer den Kontakt zu den Menschen. Ich hab schon mit 21 Jahren begonnen, Soloprogramme zu machen. Da gibt es nur dich und den Autor, der den Text oder das Lied geschrieben hat. Dafür geben die Menschen ihr Geld und ihre Zeit her. Das ist das ultimative Spiel. Wenn du da nicht lieferst, kommt niemand mehr. Das hat mir getaugt.
Sie haben Ihren 2017 verstorbenen Lebensgefährten sehr jung kennengelernt. Hatten Sie nie Angst, sich in den Sechzigerjahren damit angreifbar zu machen?
Jetzt kommt etwas sehr Naives: Ich dachte mir immer, wenn ich mich anständig benehme, dann muss das reichen. Erst im Nachhinein hab ich mitbekommen, dass es in der Branche intrigante Menschen gab, die das gegen mich verwenden wollten. Aber wissen Sie, ich hatte das Publikum immer auf meiner Seite – mich hat man wollen. Sympathie ist der einzige Goldwert in menschlichen Beziehungen. Und ich war ein guter Handwerker: Ich hatte das, was man bei Autos eine gute Grundausstattung nennt. (Lacht.)
Gibt es etwas, was Sie jetzt via BÜHNE der Welt mitteilen möchten?
Ja. Halten wir uns an die Wissenschaft. Halten wir uns nicht an die Religion, halten wir uns nicht an die Politik – halten wir uns an die Wissenschaft, und glauben wir niemandem, der von „großen Zeiten“ spricht. Denn große Zeiten waren auch immer sehr kleine Zeiten.
Wir haben noch ein bisserl Zeit. Wollen wir übers Regietheater sprechen? Oder andersrum: Warum sind mittlerweile Regisseure auf Plakaten wichtiger als die Schauspieler*innen?
Grundsätzlich vertrete ich die Ansicht, dass Menschen nicht ins Theater gehen, um Nachhilfeunterricht zu bekommen. Das Verhältnis zwischen Regisseur und Schauspieler hat sich in den vergangenen Jahrzehnten umgedreht. Regisseure überschätzen sich. „Wir müssen die Rolle gemeinsam erfinden“, haben Regisseure zu mir gesagt. Wozu? Das ist die erste Frage, die man sich in der Psychotherapie stellt: Wozu? Was muss man suchen? Nehmen wir als Beispiel den „Don Karlos“ von Schiller: Da ist die Sympathie vorgegeben. Wenn das dann gut gemacht wird – so, wie es Schiller gedacht hat – werden die Menschen sagen: „Der ist grausam, aber ich verstehe ihn.“ Das ist das größte Lob. Man muss einfach dem Leben zuschauen. Wer dem Leben nicht zuschaut, der kann in keinem Beruf etwas Gutes für die Menschen machen. Ich bin da sehr leidenschaftlich.
Sie sind auch ein Meister der Reduktion. Irgendwann gab es bei Ihren Auftritten nur mehr den Panamahut und ein Mikro.
Ich wollte irgendwann keine Rollen mehr verkörpern, sondern kleine Geschichten erzählen. Dafür braucht es keine Requisiten. Ich hab alles in der Hand gehabt: Schwerter, Totenköpfe. Ich habe viele Jahre daran gearbeitet, so nackert aufzutreten. Und da sind wir wieder beim Handwerk und beim Koch. Ich kann ein paar Gerichte wirklich gut. Aber wenn einer sagt: „Mach das doch wieder einmal so“, dann sag ich: „Weiß ich nicht …“ (Lacht.)
Herr Heltau, danke für das Gespräch.