Der Stoff, aus dem die Träume sind
Auf der Probebühne werden Universen erschaffen und Welten auf den Kopf gestellt. Es werden Dinge ausprobiert, Rollen anprobiert und wieder abgestreift. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet Kostümbildnerin Esther Geremus.
Im Wiener Arsenal, wo das Burgtheater seine Probebühnen beheimatet, wird so ziemlich alles auf die Probe gestellt – einzelne Sätze, Regieeinfälle, musikalische Arrangements, von Autor*innen erdachte Universen und natürlich auch die Welt als solche. Kurz: Es ist ein Ort des Ausprobierens. Aber auch des Anprobierens, wie bei unserem Treffen mit Kostümbildnerin Esther Geremus deutlich wird. Kleiderstangen mit Kostümteilen, die sie im Fundus der Bundestheater Holding aufgespürt hat, füllen die Gänge im ersten Stockwerk des Gebäudes. Seit rund zwei Wochen wird hier Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ geprobt, Barbara Frey führt Regie. „Ich entwickle die Kostüme parallel zur Probenarbeit und in enger Zusammenarbeit mit der Regisseurin und den Darsteller*innen. Wir sind zwar noch relativ am Anfang, haben bei einigen Figuren jedoch bereits einen roten Faden gefunden, der es uns ermöglicht, abzuschätzen, ob wir mit Stücken aus dem Fundus auskommen oder etwas anfertigen lassen müssen“, erzählt sie.
Im Raum nebenan bügelt Kostümhospitantin Paula Glawion ein Hemd, das für die Probe am Abend gebraucht wird. Als Hospitantin war sie bereits Teil der Inszenierung „Die gefesselte Phantasie“ von Herbert Fritsch. Wenn sie über ihre Arbeit spricht, gerät sie ins Schwärmen: „Es ist schon ein tolles Gefühl, wenn man die Kostüme, die man hier gemeinsam entwickelt hat, dann auf der Bühne sieht.“
Geschichte(n) am Körper tragen
Bevor es so weit ist, gibt es für Esther Geremus und ihr Team jedoch noch einiges zu tun. „Früher war es üblich, dass man die Entwürfe zuerst mit dem Regisseur oder der Regisseurin und den Verantwortlichen für das Bühnenbild bespricht, daraus ein Konzept entwickelt, es dann zeichnet und bebildert und das Ganze weit vor Probenbeginn abgibt. In der Oper ist das noch immer so. Beim Schauspiel kommt es immer öfter vor, dass man die Kostüme am Stück entlang entwickelt – so wie wir es jetzt beim ‚Sommernachtstraum‘ tun“, erzählt die gebürtige Münchnerin.
Ich finde es schön, wenn Dinge ein Vorleben haben und man diese Geschichten am Körper trägt.
Esther Geremus, Kostümbildnerin
Möglichst viele Dinge aus dem Fundus zu verwenden ist vor allem im Sinne einer nachhaltigen Arbeitsweise von großer Bedeutung. „Ich habe schon immer gerne mit Kleidungsstücken aus dem Fundus gearbeitet und kann mich an keine Produktion erinnern, bei der ich ausschließlich angefertigt hätte“, hält die Kostümbildnerin fest und rückt sich ihre Brille zurecht. Sie setzt nach: „Ich finde es schön, wenn Dinge ein Vorleben haben und man diese Geschichten am Körper trägt.“ Auch privat setzt sie häufig auf gebrauchte Kleidung, trägt zum Beispiel Stücke, die schon ihre Mutter gerne anhatte. Zudem versucht sie, Dinge, die sie bereits besitzt, länger zu tragen und sie reparieren zu lassen, wenn sie kaputtgehen.
Detail am Rande: Wie auf der Website des Londoner Globe Theatre nachgelesen werden kann, baute man schon zu Lebzeiten Shakespeares auf Kostüme aus zweiter Hand. Die Theatergruppen besaßen in der Regel einige Kostüme und verwendeten diese so oft wie möglich. Thomas Platter der Jüngere, ein Schweizer, der 1599 England besuchte, berichtete, dass höhergestellte Leute ihren Dienern oft Kleidung vererbten. Diese durften jedoch keine teuren Kleider tragen, also verkauften sie diese an Schauspieler.
Die Macht der Verwandlung
In besonderem Maße auf eine nachhaltige Herangehens- und Arbeitsweise zu setzen sei vor allem bei dieser Produktion naheliegend, fügt Geremus hinzu. Schließlich geht es in Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ auch um den Umgang mit der Natur und das Infragestellen starrer Strukturen und Herrschaftssysteme. Und natürlich – wie so oft bei Shakespeare – auch um die Kraft des Traumes und die Macht der Verwandlung. Selbstfindung wird zu Selbsterfindung, und Rollen werden anprobiert, nur um sie dann wieder abzustreifen wie einen Pullover, der ein wenig kratzt. Ein wahres Spielfeld für die Kostümabteilung – und das sieht man auch sofort, wenn man Esther Geremus und ihr Team beim Hantieren mit den Stücken aus dem Fundus beobachtet.
Ein weiteres Detail am Rande: Im Kostümfundus der Bundestheater Holding, dem größten in ganz Europa, befindet sich eine Viertelmillion Kostüme aus allen Epochen und aller Genres. Geremus nutzt ihn auch, um sich inspirieren zu lassen, wenn sie bei einer Kostümidee ins Stocken geraten ist.
Gute Beobachtungsgabe
Zum Kostümbild kam Esther Geremus über einige Umwege. Startpunkt war der Zirkus. „Ein Jahr lang habe ich beim Circus Roncalli in der Kostümabteilung geholfen. Das hat mir total Spaß gemacht“, erinnert sie sich. Mit diesem Gedanken, aber eigentlich Musikpädagogik studierend, zog sie ein wenig später nach Wien – mit dem Plan, ein Jahr zu bleiben. „Natürlich kam alles anders“, fügt sie lachend hinzu.
Durch eine Verkettung von Zufällen lernte sie Michael Schottenberg und die Kostümbildnerin Birgit Hutter kennen und landete schließlich im Schauspielhaus – wo sie dann 16 Jahre lang blieb. „Hans Gratzer hat mir sofort alle Türen geöffnet, und ich hatte die Möglichkeit, alles von der Pike auf zu lernen“, so Geremus. Auch ein Studium an der Angewandten war zwischenzeitlich eine Option. „Es kam dann jedoch zu einer Situation, in der ich mich entscheiden musste, ob ich zur Aufnahmeprüfung gehe oder zur Probe ins Burgtheater. Ich wusste jedoch, dass ich aus der Produktion fliege, wenn ich nicht bei der Probe erscheine, also hab ich mich fürs Theater entschieden“, erinnert sie sich und lacht.
Was für sie das Schönste an der Theaterarbeit sei, möchten wir noch von ihr wissen. Sie atmet hörbar aus und wieder ein und antwortet anschließend: „Puh, da gibt es viele Dinge. Ich finde es noch immer unglaublich faszinierend, wie man Menschen mit Kostümen verändern kann. Wie man den Spieler*innen helfen kann, eine Figur zu suchen und zu finden. Darüber hinaus arbeite ich sehr gerne mit Text und finde es total spannend, wie sich die Zugänge zu Texten durch die wochenlange Auseinandersetzung mit ihnen verändern. Und ich liebe an der Theaterarbeit die Menschen, die vielen unterschiedlichen Charaktere, die dort aufeinandertreffen – in einer Welt, die es uns gemeinsam ermöglicht, sich mit Kunst zu beschäftigen.“
Neben vielen anderen Dingen sei eine gute Beobachtungsgabe für ihren Beruf entscheidend, ergänzt Esther Geremus. Oft habe sie zunächst einmal gar keine Kostümidee, wenn sie die Spieler*innen nur von Fotos kennt, sie nicht weiß, wie sie „in echt“ aussehen, sich bewegen. „Ich beobachte aber nicht nur gerne Schauspieler*innen, sondern überhaupt Menschen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir uns in der Zeit am Schauspielhaus, wenn uns nichts eingefallen ist, häufig in der Porzellangasse in ein Kaffeehaus gesetzt haben, um die Menschen auf der Straße zu beobachten – wie sie gehen, wie sich bewegen und was sie tragen. Meist hatten wir dann nach einer halben Stunde fünf Kostümideen.“
Wir verabschieden uns von Esther Geremus, Maria-Lena Poindl und Paula Glawion und verlassen die Probebühne mit dem Gefühl, dass an dem Satz aus Shakespeares Komödie „Wie es euch gefällt“ tatsächlich etwas dran sein könnte: „Die ganze Welt ist eine Bühne / Und alle Frauen und Männer bloße Spieler.“