Jenůfa: Liebe, Sex, Hass & Mord
Sie leiden unter den schlechten „Tatort“-Drehbüchern? Dann haben wir etwas für Sie: Lotte de Beer inszeniert „Jenufa“ am Theater an der Wien, eine der schönsten und zugleich brutalsten Opern. In der Titelrolle: Svetlana Aksenova.
Könnten Sie den Mord an einem Baby verzeihen? Würden Sie verstehen wollen, warum er begangen wurde?
Gefühlt jeder zweite Fernseh-„Tatort“ dreht sich um Kindermord. Trivial folgen die Drehbücher dort klaren Linien. Die Zuseher werden zwischen Schwarz und Weiß hin und her geführt. Fragen wie die obigen muss man sich gar nicht stellen, denn die Kamera, die Regie werten bereits ab dem ersten Drehtag. Diese vorgekaute Scheinkatharsis verweigert Ihnen Leoš Janáček, und doch müssen Sie in seiner Oper „Jenůfa“ nicht auf alle Ingredienzien eines Mega-Thrillers verzichten: Sex, Wahnsinn, Liebe, Hass und Mord. Verdichtet in der moralisch engen Welt eines tschechischen Dorfes am Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Besondere ist die herzzerreißende und harte Geschichte. Janáček sieht auch die Täterin als Mensch.
Lotte de Beer, Regie
Die schönste Oper der Welt
Eine Oper, über die der Janáček-Experte Ingo Metzmacher sagt: „‚Jenůfa‘ ist eine der schönsten Opern, die je geschrieben wurden. Wer sie gehört hat, wird sie nicht vergessen, wer sie erlebt hat, wird die Welt anders begreifen. Sie nimmt Anteil an den handelnden Personen, ohne sie zu verurteilen.“
Die designierte Direktorin der Wiener Volksoper Lotte de Beer wird inszenieren und nickt zu dem, was Metzmacher sagt: „Das Besondere an dieser Oper ist die herzzerreißende und harte Geschichte. Janáček sieht auch die Täterin als Mensch, und er zeigt uns, wie eine Gemeinde von Menschen einander schlimmste Dinge antut, obwohl sie alle glauben, sie machen das Beste.“
Ich fühle jede Rolle, ich muss tanzen gehen, um wieder ich zu werden.
Svetlana Aksenova, Sopranistin
Lotte de Beer begibt sich in ihrer Inszenierung auf den Weg, „zu verstehen, was einen Menschen dazu treibt, auf dem Eis zu sitzen und ein kleines, warmes, duftendes, unschuldiges Wesen im kalten Wasser zu ertränken. Das will ich verstehen. Das will ich nicht nur beurteilen, das will ich nicht nur wie ein Horrorfilm irgendwie abbilden, sondern ich will das Gefühl in mir erkennen.“
Neun Jahre quält sich Leoš Janáček mit dem Werk, dessen Grundlage eine Geschichte von Gabriela Preissová ist, einer Vertreterin des idealisierten Realismus. Er ist in einer emotionalen Ausnahmesituation: Seine 21-jährige Tochter Olga ist an Typhus erkrankt und gestorben. Zuvor sein Sohn Vladimir. „Die Jenůfa möchte ich nur mit dem Trauerflor der langen Krankheit, der Schmerzen und des Jammers meiner Tochter Olga und des Bübchens Vladimir umwinden“, schreibt er.
Im Zentrum der Geschichte steht die schöne Jenůfa. Nach einem One-Night-Stand erwartet sie ein Kind von Števa, dem Sonnyboy des Dorfes. Der will sie aber nicht – im Gegensatz zu seinem Bruder Laca. Der wird aber zurückgewiesen und schlitzt Jenůfa die Wange auf. Über allen steht die Küsterin, Jenůfas Ziehmutter und die wahre Macht im Dorf. Sie versteckt Kind und Jenůfa, aber es ist klar: Das Kind der Schande muss weg.
Neun Jahre kämpft Janáček gegen seine eigenen Dämonen und um die Vertonung. Seine damalige Haushälterin schreibt: „Manchmal schien es mir, als ob der Herr mit der Oper regelrecht ringe; ja, als ob er nicht zum Komponieren, sondern zum Kämpfen in sein Arbeitszimmer gehe.“
Das Skizzieren realer Sprachmelodien ist gleichsam das Aktenzeichen der Musik
Leoš Janáček, Komponist
Den letzten Atemzug der Tochter aufgezeichnet
Janáček will zuerst eine klassische Nummernoper schreiben, ganz nach dem Vorbild von Antonín Dvořák. Am Ende – da ist Janáček über 50 Jahre alt – hat er ein Werk geschaffen ohne Arien und Rezitative, aber in einer musikalischen Erzählweise, die sich an der Psychologie der Personen abarbeitet. Janáček sammelt unablässig tschechische Volksmusik, Geräusche, Gespräche, den Sound der Natur.
Leoš Janáček schreibt: „Ich lauschte der Rede der Vorübergehenden, ich las in ihrem Gesichtsausdruck, meine Augen verfolgten jede Regung, ich beobachtete die Umgebung der Sprechenden, die Gesellschaft, die Zeit, das Licht und die Dunkelheit, die Kälte und die Wärme. Den Widerschein all dessen fand ich in dem notierten Sprechmotiv. Wie viele Sprechmotiv-Variationen ein und denselben Wortes es gab!
(...) Ich vernahm darin die Trauer und den Freudenschimmer, die Entschlossenheit und den Zweifel – ich fühlte im Sprechmotiv die Rätsel der Seele. Jemand schwatzte mir vor, nur der reine Ton bedeute etwas in der Musik. Und ich sage, dass es gar nichts bedeutet, solange er nicht im Leben, im Blut, in der Umwelt steckt (...).“
Dieses Sammeln geht so weit, dass er sogar am Sterbebett seiner Tochter Olga nichts Dringenderes zu tun hat, als ihre letzten Seufzer feinsäuberlich in einem Notenbuch zu protokollieren – interessante Intonationen des Todes zur späteren kompositorischen Verwendung. Manisch sucht er nach Einfachheit und Direktheit in der Musik, wiederholt Tonfolgen und lädt sie expressiv auf.
„So wie man Kontrapunkt, Harmonie und so weiter studiert, muss der Opernkomponist auch nach der Natur zeichnen lernen. Das Skizzieren realer Sprachmelodien ist gleichsam das Aktzeichnen der Musik.“
Die Uraufführung in Brünn ist ein Erfolg. Erst 1916 wird die Oper in einer gebügelten Fassung von Karel Kovařovic in Prag aufgeführt. Max Brod übersetzt das Werk, und es wird nach der Premiere 1918 an der Wiener Hofoper zum Welterfolg.
Wir müssen ein wenig spoilern: Die Küsterin ertränkt das Kind im Mühlbach. Aus Ehrgefühl? Mordlust?
Der Verdacht fällt erst auf Jenůfa, der Mob will sie ermorden, dann gesteht die Küsterin und wird verhaftet. Genau hier lässt Lotte de Beer ihre „Jenůfa“ beginnen.
Sie erzählt die Geschichte visuell und rollt sie von hinten auf: „Wir befinden uns am Anfang in einem Gefängnis und bewegen uns dann in einen Raum, der sich verändert.“ Ziemlich schlau. Denn die Aufführungsgenesis ist voller Dorfinszenierungen, die, verführt durch die wundervolle Musik, ins Lieblich-Nostalgische abdriften. „Wir müssen die Geschichte so grausam und nackt zeigen, wie sie ist. Wir werden die Natur, den Herbst, den Frühling und Winter und wieder den Herbst in den Kostümen und in der Beleuchtung mitnehmen. Es werden folkloristische Elemente vorkommen, aber eher als Metapher in einem albtraumartigen visuellen Stil, auf den die Küsterin zurückblickt. Janáček war ein Meister der Einfachheit, dem wollen wir folgen. Wir werden die Psychologie der Figuren und das Spiel der Sänger*innen nutzen, um das zu deuten.“
Wir müssen die Geschichte so grausam und nackt zeigen, wie sie ist.
Lotte de Beer, Regie
Im Kloster träumte sie ihr Leben
Lotte de Beer und ihre Inszenierung stehen – und das weiß sie – unter besonderer Beobachtung. Für Direktor Roland Geyer sichert das zusätzliche PR, für Lotte de Beer zusätzlichen Druck. Ist ihre Regie- arbeit etwas, wovon man den neuen Volksopernstil ableiten kann? Sie lächelt – die Frage war erwartbar: „Die ‚Jenůfa‘ passt perfekt ins Theater an der Wien. Die Volksoper hat eine ganz andere Tradition. Hier muss ich nur als Regisseurin nachdenken, aber für die Volksoper als Intendantin. Natürlich ist bei beidem meine Seele. Aber das sind zwei Paar Schuhe. Eines sei verraten: Wir arbeiten an der Volksoper bereits an der Programmierung für die zweite und dritte Saison.“ Mehr sagt sie nicht. Blöd wäre sie.
Es ist ein Samstag im Jänner. Wir treffen die Sopranistin Svetlana Aksenova in einem Besprechungsraum des Theaters an der Wien. Sie ist in Sankt Petersburg geboren. Sie wird die Jenůfa singen. Es ist ihr Rollendebüt. All die Fragen, die wir am Anfang dieser Geschichte aufgeworfen haben, stellt sich Svetlana Aksenova, selbst zweifache Mutter, auch. Aksenova gilt neben ihren stimmlichen Qualitäten als eine der ausdrucksvollsten Schauspielerinnen auf den Opernbühnen. „Ich singe lieber Opern als Konzerte. Ich habe immer schon gerne gespielt. Selbst als Kind habe ich bei allem, was ich getan habe, geschaut, ob ich ein Publikum habe.“
Ihr Bruder, der in einer Rockband spielte und Mitglied im russisch-orthodoxen Kirchenchor war, brachte sie zum Gesang. „Er hat gesagt, deine Stimmlage fehlt hier bei uns, und in der Kirche habe ich dann meine Stimme entdeckt.“ Aksenova lächelt und singt uns spontan vor, was sie damit meint. Ihre wunderschöne Stimme füllt den Raum. Dann wird sie plötzlich nachdenklich: „Ich wollte damals Nonne werden. In der ersten Nacht hatte ich dann einen Traum: Ich flog durch den Raum, war eins mit dem Licht und sang. Von da an wusste ich, was ich tun muss, was meine Berufung ist. Egal, was jemand anderer sagt. Das klingt pathetisch. Aber es ist so.“
Aksenova spricht leise und erzählt, dass sie nach Auftritten gern tanzen geht – am liebsten Samba –, um sich von ihren Rollen zu befreien, so nahe lässt sie diese an sich heran. Und dass sie auf der Bühne intuitiv weiß, was zu tun ist. „Ich habe einen sehr starken Willen“, sagt sie und lächelt.
Worte, die unsere Imagination anregen: Man sieht Aksenova förmlich, wie ihre russische Leidenschaft und Seele dieser unglaublich geschundenen und doch liebenden Rolle ein Gesicht und vor allem eine starke Stimme geben wird.
Zur Person: Leoš Janáček
Erst ein Jahr vor seiner Pensionierung, 1918, wurde seine Oper „Jenůfa“ durch die Premiere an der Wiener Hofoper zum Welterfolg. Der Mähre war glühender Anhänger des Panslawismus und sammelte unablässig Geräusche der Natur – sogar den letzten Atemzug seiner Tochter zeichnete er auf. JanáÊek starb 1928. Zu seinen erfolgreichsten Werken gehören unter anderem „Das schlaue Füchslein“ und „Aus einem Totenhaus“.