Zumindest ein Wochenende London pro Jahr müsste man auf Krankenschein erhalten: Die feine englische Art (die nicht im Fußballstadion obwaltet) macht gesünder, Schlange­stehen ist eine charakterstärkende Übung in Selbstdisziplin und Respekt, und ein Grund­nahrungs­mittel ist der britische Humor.

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Exterritoriale Labung

An diesem konnte ich mich beim Operettensommer 2021 in Langenlois wenigstens exterritorial laben. Der Tenor Stephen Chaundy war Alfred in „Die Fledermaus“ … eigentlich Älfräd, denn er durfte den Engländer spielen, der er ist, und den Abend in seiner Muttersprache eröffnen: „Do you still belong to me“ statt „Täubchen, das entflattert ist“. 

Stephen schenkte mir drei Anekdoten, in deren Zentrum der britische Schauspieler John Gielgud steht. Nicht nur seine Lebensdaten (1904 bis 2000) beeindrucken: Sir John war der Einzige, nach dem sowohl ein Theater in London als auch ein Asteroid benannt wurden und der im Jahr seines Coming-out (1953) von der nicht gerade als Schwulenfan geltenden Queen zum Ritter geschlagen wurde. 

John Gielgud räumte alle US-Prestigepreise ab

Ach ja: Aberhunderte Bühnen- und zig Leinwandrollen von 1924 bis in sein Todes­jahr 2000 und von Shakespeare bis zum Fantasy-Tschinbum „Dragonheart“ sowie die Abräumung aller US-amerikanischen Prestigepreise (Oscar, Emmy, Grammy und Tony) sind sich auch noch ausgegangen.

Einst arbeitete Gielgud mit dem Theatervisionär Peter Brook, der es liebte, seine Darsteller mit überraschenden Mini-Workshops zu trainieren. Eine Probe begann er mit der Aufgabe: „Ich will something shocking von euch hören!“ – die Truppe bot wahlweise Bärengebrüll, Momentaufnahmen von besoffenen Randalierern und erschütternde Missbrauchsbekenntnisse. Schließlich wandte sich Sir Peter an Sir John, der am Rande der Bühne ungerührt „The Times“ las: „John, möchtest du auch etwas Schockierendes beitragen?“ Gielgud klappte bedächtig die Zeitung zu und sagte freundlich: „Wir haben in zwei Wochen Premiere.“

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Schweigen auf der Bühne

In einer anderen Story hebt sich der Vorhang über einer Aufführung, der hoch­betagte Gielgud sitzt neben dem etwa gleichaltri­gen Ralph Richardson, und es ertönt … nichts. Der Souffleur zischt den ersten Satz – Schweigen auf der Bühne. Ein paar verzweifelt-lautstarke Zurufe später erhebt sich Sir Ralph, schreitet gemessen an den Bühnenrand und wendet sich mit väterlicher Güte an den Souffleur: „Mein lieber Junge, wir wissen den Satz. Aber welcher von uns beiden sagt ihn?“

Im August 1968 wagte sich Sir John Gielgud daran, Mozarts „Don Giovanni“ zu inszenieren. So vertraut die Welt des gesprochenen Wortes für Gielgud auch war, blieb ihm die Sphäre des Gesanges mit Musikbegleitung doch eher fremd. 

John Gielgud und die feine englische Art

Bei der ersten Bühnenorchesterprobe musste er feststellen, dass die Solisten seine Regieanweisungen vernachlässigten und sich völlig auf die Musik konzentrierten. Den Hinweis, dass diese Probe „dem Dirigenten gehöre“, beherzigte Sir John, so gut es ging. Plötzlich aber stürmte er durchs Parkett und schrie seine Anweisungen auf die Bühne. Als seine Stimme das Orchester nicht durchdrang, brüllte er in den Graben: „Stop that ghastly music, will you?“ („Hört doch mit dieser grässlichen Musik auf!“)
Da war die feine englische Art ausnahmsweise entgleist, und es blieb Gielguds einzige Mozart-­Inszenierung …

Weiterlesen: Die Kolumnen von Christoph Wagner-Trenkwitz

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