Wenn alles glatt läuft: Silvia Meisterle spielt Anna Karenina
Silvia Meisterle spielt „Anna Karenina“ im Theater in der Josefstadt. Dafür lässt sich die Wunschbesetzung von Regisseurin Amélie Niermeyer einmal mehr auf Neues ein.
Wer spricht von Eislaufen lernen, wenn es 35 Grad draußen hat? Silvia Meisterle, als wir uns im Juni 2021 (die Premiere musste seither mehrmals verschoben werden) für ein Interview zu „Anna Karenina“ treffen. Zwei bis drei Mal pro Woche übten sie und ihre Kolleg*innen zu dieser Zeit in der Eishalle, um einen eleganten Schwung hinzubekommen. Warum? Regisseurin Amélie Niermeyer lässt den Großteil des ersten Akts ihrer Theateradaption von Leo Tolstois Roman auf einer Eisfläche spielen.
Für Silvia Meisterle eine zusätzliche Herausforderung zur anspruchsvollen Darstellung der Titelrolle. „Ich konnte Eislaufen, aber nicht so, dass es vorzeigbar wäre“, sagt sie. „Und so üben wir eben mit einem Trainer, während die Profis in der Stadthalle neben uns Pirouetten drehen". Meisterle ist generell eine Schauspielerin, die keine Scheu hat, für Rollen Neues zu studieren. Sie ist „eine, die sich reinhängt, die nie stehen bleiben und immer in Bewegung sein möchte“, wie sie beschreibt. Und das glauben wir sofort. Mit welchem Enthusiasmus sie von der Neuproduktion erzählt, ist bewundernswert.
Sie freut sich sehr, wieder mit Amélie Niermeyer zu arbeiten, mit der sie auch schon die Erfolgs-, ja Kultproduktion „Der Kirschgarten“ machte. „Wie auch bei den damaligen Proben schwingt alles sehr gut und die Arbeit mit Amélie ist deshalb so schön, weil sie eine Atmosphäre schafft, in der jeder so sein kann, wie er ist, eine, die von großer Wertschätzung geprägt ist“, so Meisterle. Dies schaffe „einen Nährboden für Freiheiten, gleichzeitig fühlt man sich trotzdem total aufgehoben. Indem sie einen so annimmt, wie man ist, mit allen Ängsten und Zweifeln, entwickelt man eine Freiheit des Ausprobierens, kann sich aber gleichzeitig sicher sein, dass sie einen auffängt, wenn man sich verrennt.“
Eingeflochtene Monologpassagen
Meisterle war Niermeyers Wunschbesetzung für die Anna, mehr noch – die beiden haben die Idee, das Stück auf die Bühne des Theaters in der Josefstadt zu bringen, gemeinsam entwickelt. „Wir merkten in Kirschgarten, dass wir Lust hatten, eine größere Sache gemeinsam zu machen, und in unseren Überlegungen ist schnell Anna Karenina aufgetaucht. Amélie hatte schon einmal angefangen daran zu arbeiten und dann hat eines das andere ergeben.“
Auf Basis der Theaterfassung von Armin Petras hat Niermeyer eine eigene Version gemacht, die auch zahlreiche epische Passagen aus Leo Tolstois Roman aufnimmt, in denen die Charaktere in inneren Monologpassagen und Kommentierendem erzählen, was sie fühlen und machen. Wie kann man hier vorgehen, um nicht mit dem, was man spielt, zu doppeln? „Das so zu sprechen, dass es dennoch von der Energie her nicht abebbt, ist derzeit unsere Herausforderung, ist aber auch reizvoll, weil man so gut Brüche spielen kann. Man muss eine Haltung finden, die eben das Gesagte nicht doppelt, sondern damit verquer geht.“
Aufbruch aus der Leere
Leo Tolstois Roman hat Meisterle mehrfach gelesen. Und dennoch war es bei Probenbeginn wieder etwas ganz anderes, auch, „weil unsere Theaterfassung im Heute spielt und die Handlung auf sieben Figuren eindampft und ausspart, wie die Gesellschaft in die Geschichte eindringt. Amélie dachte, dass sie ansonsten schnell im Verstaubten landen könnte. Ihr geht es eher um den Aufbruch und Einbruch von Anna aus ihr selbst, aus der Leere und der Zerrissenheit. Das fand sie vom Ansatz her spannender.“ Meisterle kann mit dem Verlegen der Handlung ins Heute gut leben. „Die Charaktere, die so vielschichtig und komplex sind, haben etwas Überzeitliches. Ehebruch hat es immer gegeben, das Verlieren des Ichs ist allzeit gütig. Das Stück wird so zur profunden Seelenschau.“
Es gibt in Anna Karenina einfach keine Sicherheit, die einen können es und laufen Kür, die anderen legt es auf die Nase."
Silvia Meisterle
In der Beschäftigung mit ihrer Bühnenfigur habe es durchaus Momente gegeben, in denen „ich einen großen Widerstand gespürt habe. Für mich ist sie nicht auszuhalten, wenn sie mit Wronski nach Italien geht und ihren Sohn im Stich lässt“, sagt die Schauspielerin, die selbst zweifache Mutter ist. „Diese Passage, wo die Chancen eigentlich gut standen, dass sich die Wogen glätten, und sie dennoch weggeht, sind für mich noch ein gordischer Knoten.“ Auch Karenin habe für sie etwas Abstoßendes und etwas Liebenswertes zugleich, man habe Sympathie und Antipathie für ihn, sagt Meisterle - und zitiert Daniel Glattauer, der von der Lächerlichkeit und dem Heldentum dieser Figuren gleichermaßen sprach. „Sie sind keine Schablonen, das macht sie so reich. Die Figuren fordern eine Fülle an Charakterisierungen.“
Emotionale Hochschaubahn
Für sie sei gerade das Divenhafte, Dunkle und Mysteriöse der Anna etwas Neues. „Mein aktueller Auftrag ist, mehr Zurückgezogenheit zu suchen, ich selbst bin eher jemand, der sich schnell hergibt“, sagt sie und ihr ganzes Wesen strahlt. Just aber die „emotionale Hochschaubahn ist es, die mich beim Schauspiel interessiert. Das Hineintauchen in die Tiefe der Emotionen, das in profundis Gehen, Grenzen zu sprengen und Hemmungen zu überschreiten – ja, mich ganz in die Figur einzufräsen, das ist, was mich an meinen Beruf reizt.“ Für Meisterle ist es auch eine Art an ihre Grenzen zu gehen oder diese zu überschreiten, wenn sie auf der Bühne eisläuft – aber die Kraft der Metapher überwiegt: „Es gibt in Anna Karenina einfach keine Sicherheit, die einen können es und laufen Kür, die anderen legt es auf die Nase. Im Mittelpunkt steht das glatte Parkett, wo ein Fehltritt zum Sturz führen kann“.
Zur Person: Silvia Meisterle
Die Wienerin spielt seit 2008 an der Josefstadt, seit 2010 ist sie im Ensemble und hat in „Die Liebe Geld“, „Zwischenspiel“, „Die Strudlhofstiege“, „Glaube und Heimat“, „Der Kirschgarten“ u.a. mitgewirkt. Man hört ihre Stimme auch auf Ö1.