Wovon man nicht spricht, das gibt es auch nicht
Gerald Maria Bauer, Chefdramaturg am Theater der Jugend, hat ein Plädoyer für das Vertrauen in die Urteilskraft von Kindern geschrieben.
Essay von Gerald Maria Bauer
„Was wahr ist, ist wahr, und das ist auch für Kinder wahr“, schrieb Christine Nöstlinger, ganz frei nach Ingeborg Bachmann. Es ist schwer zu leugnen: Im Zuge der Covid-Pandemie wurde jungen Menschen das allermeiste zugemutet. Das Recht auf Bildung, soziale Begegnungen und in weiterer Folge Kultur stellten plötzlich keine Selbstverständlichkeit mehr da, und schließlich bildeten Kinder und Jugendliche in Bezug auf medizinische Versorgung das Schlusslicht. Man fühlt sich in dem Gedanken bestätigt: Kinder dürfen nicht wählen, also haben sie keine politische Lobby. Die Lateralschäden dieser Gesundheitskrise werden uns noch lange – über das Ende der Pandemie hinaus – begleiten.
Umso wesentlicher ist es, jetzt, nach diesen Jahren der Verluste, die Plattform Kultur für Heranwachsende so weit wie möglich zu öffnen. Kultur als einen Ort des Nachdenkens über den Zustand der Welt, in der wir uns befinden, mit den spielerischen Mitteln der Kunst hinterfragbar zu machen und einen Ort der gemeinschaftlichen (Selbst-)Reflexion zur Verfügung zu stellen. Dass es nach der pandemiebedingten Isolation ein Bedürfnis nach Austausch vonseiten junger Menschen gibt, bringen etwa die Umweltprotestbewegungen zum Ausdruck. Je bedrohlicher sich die Welt nach der Pandemie und in diesen wirtschaftlich bedenklich unstabilen Zeiten zeigt, umso mehr polarisiert neuerdings eine Frage: Was darf und soll jungen Menschen auf der Bühne und in der Literatur zugemutet werden?
Kunst, auch wenn sie für junge Menschen gemacht sein soll, kennt kein Diminutiv, sondern sie ist allem voran Kunst, und jede banale wie komplexe Theorie aus Rezeptions- und Produktionsästhetik kommt zur Anwendung.
Gerald Maria Bauer
Spätestens seit 2012 begleitet uns die – höchst emotional geführte – Diskussion über das Umschreiben von problematischen Begriffen in Kinderbüchern. Die Fronten sind verhärtet, ideologisierte Forderungen prallen auf irrationale Verlustängste, und Reizwörter, die rasch in Auseinandersetzungen einfließen, vergiften aufkeimende Diskussionen in Sekundenschnelle. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir uns als Gesellschaft dieses Aneinander-Vorbeihören heute leisten können.
Nachdem sie selbst mit Rassismus-Vorwürfen konfrontiert worden war, wehrte sich Christine Nöstlinger 2013 entschieden gegen das Umschreiben von Kinderbüchern und befürwortete das Kontextualisieren problematischer Wörter, etwa durch das Hinzufügen von Fußnoten und Anmerkungen. „Das (Umschreiben von Kinderbüchern; Anm.) zeigt, dass Kinderliteratur für viele nicht mehr ist als eine Pädagogikpille, eingewickelt in G’schichterlpapier“, stellte sie in einem viel beachteten Interview des „Tagesspiegels“ fest. Und damit hat sie ein wesentliches Problem benannt: Kunst, auch wenn sie für junge Menschen gemacht sein soll, kennt kein Diminutiv, sondern sie ist allem voran Kunst, und jede banale wie komplexe Theorie aus Rezeptions- und Produktionsästhetik kommt zur Anwendung. Und so gerne Erziehungsberechtigte ihren Kleinen diesen äußerst vielschichtigen Vorgang der Kunstbetrachtung vereinfachen möchten, der Versuch wird scheitern und die Frustration groß sein. Auch wenn Kunst eine Unmenge an pädagogischem Mehrwert zu bieten hat, ist sie keinesfalls der angewandte oder verlängerte Arm von Pädagogik mit didaktisch erhobenem Zeigefinger.
Am Ende des Sich-Einlassens mit dem Kunstwerk steht für alle, und damit auch für junge Menschen, das kritische Urteil, Nicht-Gefallen miteingeschlossen. Man würde junge Menschen um den Kunstgenuss bringen, wenn man ihnen ausgerechnet dies verwehrte. „Mein Kind hat es nicht verstanden“ ist eine recht pathologisierende Aussage, mit der Eltern mehr über sich zum Ausdruck bringen als über die kognitiven Fähigkeiten ihrer Kinder.
Wer von uns würde je behaupten, Leonardos Mona Lisa „verstanden“ zu haben? Und hier bin ich bei Nöstlinger: Wir tun Kindern keinen Gefallen, wenn wir versuchen, ihnen das zusammenhängende Begreifen abzunehmen. „Mein Kind konnte damit nichts anfangen“ lässt ihm die Würde, ein selbstreflektiertes, kritisches Wesen zu sein. Und man darf das Kind beruhigen: Es wird ihm – wie uns – noch oft so gehen, wenn es sich mit Kunst einlässt.
Auf die Frage nach den großen Veränderungen in der Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung meint der wohl prominenteste Kinderpsychiater des Landes, Paulus Hochgatterer, jüngst in einem Interview, dass die zunehmende Sorge der Eltern die Freiheiten der Kinder empfindlicher einschränke: „Einerseits erspart man Kindern vieles und schützt sie vor vielem, andererseits entwickeln sie auf diese Weise nicht die Fähigkeit, sich die Dinge selber zu regeln.“
„Wogegen soll ich denn revoltieren, wenn du eh alles super findest, was ich mache?“, wirft der jugendliche Jason seiner Filmmutter im Spielfilm „Mein Sohn“ von Lena Stahl ganz beiläufig an den Kopf.
Ich plädiere dafür, der Urteilskraft von Kindern, diesen von Grund auf hochtourig neugierigen Weltentdecker*innen, auch weiterhin alle Möglichkeiten zu bieten, um das, was sie umgibt, zu begreifen und eine eigene Haltung zu den Dingen zu finden.
Gerald Maria Bauer
Man gestatte mir folgende persönliche Beobachtung: Was vor Jahrzehnten aus eher konservativen Kreisen als Forderung an unsere Theaterarbeit für junge Menschen herangetragen wurde, nämlich die Probleme des Alltags, der ohnehin für die nachwachsende Generation schon schrecklich genug sei, im Theater auszuklammern, kommt jetzt aus den progressiven Kreisen, selbstverständlich aus einer anderen Motivation heraus. Das Resultat ist allerdings das gleiche: die Sehnsucht nach einem Heile-Welt-Versprechen auf der Bühne, völlig losgelöst von einer Wirklichkeit, die uns tagtäglich umgibt. Wenn allerdings gesellschaftliche Probleme und deren Enttabuisierung, das Abgründige im Mensch-Sein – seit jeher Hauptthema der Kunst – nicht mehr der Motor der Kunst sein dürfen, was wäre dann die Herausforderung, sich mit Kunst überhaupt einzulassen?
Haben wir sie dann nicht bis zur Unkenntlichkeit beschnitten und ihrer ursprünglichen Funktionen beraubt, die da wäre, in einem geschützten, aber tabulosen Rahmen Versuchsanordnungen zu schaffen, wie Menschen miteinander umgehen, damit wir daraus Erkenntnisse ziehen?
„Wovon man nicht spricht, das gibt es auch nicht“, wird sich auch weiterhin nicht als Wahrheit herausstellen.
Ich plädiere dafür, der Urteilskraft von Kindern, diesen von Grund auf hochtourig neugierigen Weltentdecker*innen, auch weiterhin alle Möglichkeiten zu bieten, um das, was sie umgibt, zu begreifen und eine eigene Haltung zu den Dingen zu finden, statt dass wir versuchen, ihr Denken aufgrund eines unglücklichen Beschützerinstinkts zu beschneiden. Denn Letzteres würde sich rächen.