Anja Jemc sitzt auf der Rückbank im Auto. Ihr Blick hängt auf der Google Maps Nadel.  „Jetzt abbiegen", navigiert sie uns über die Landstraßen Richtung Salzkammergut. So jung sie auch aussieht, ihre Stimme ist tief und geradlinig, als würde sie das Ö1-Morgenjournal moderieren. Zwischen der Vormittags- und der Abendprobe führt sie Regisseur Christoph Diem und Bühnenbildner Florian Barth an den Attersee. Die dort gedrehten Videos werden dann in Goethes "Wahlverwandschaft" ab Ende Oktober auf die Leinwand der Linzer Landestheater Bühne projiziert. 

Anzeige
Anzeige

Ich bin die Schnittstelle zwischen künstlerischer Vision und technischer Umsetzung."

Anja Jemc über ihre Arbeit als Regieassistentin

Von der Rückbank aus navigieren - ein Bild, das symbolisch für ihre derzeitige Arbeit stehen könnte. Die 22-Jährige arbeitet das dritte Jahr als Regieassistentin. Zusammengefasst bedeutet das: „Ich bin die Schnittstelle zwischen künstlerischer Vision und technischer Umsetzung."

An diesem Tag also: Den passenden Drehort am Attersee organisieren, zwischendurch Knabbernossi und Prosciutto Semmeln für die Fahrt besorgen, später am Abend in Linz wieder Regiebuch führen und überprüfen, ob für die Probe am nächsten Tag alles steht.

Jüngstes Ensemble-Mitglied 

Ab Jänner darf sie erstmals ihre eigene künstlerische Vision umsetzen. Eine Chance, die ihr nicht einfach so zugeflogen ist: Mit 22 Jahren ist Anja Jemc die jüngste Angestellte des Linzer Landestheaters. Sie hat nicht nur Fleiß, Ehrgeiz und Talent beweisen müssen, sondern auch Mut – immer wieder, doppelt und dreifach.

Mein Papa meint immer, man darf sich nicht unter seinem Wert verkaufen, und da hat er absolut Recht. Besonders wir jungen Frauen lassen uns auch leicht dazu verleiten."

Anja Jemc
Anzeige
Anzeige

„Ich habe der Direktion gesagt, wenn ich nicht mein eigenes Stück inszenieren darf, verlängere ich meinen Vertrag nicht", sagt sie. Woher sie das Selbstvertrauen dafür nahm? „Mein Papa meint immer, man darf sich nicht unter seinem Wert verkaufen, und da hat er absolut Recht. Besonders wir jungen Frauen lassen uns auch leicht dazu verleiten." Und Frauen seien oftmals weniger risikofreudig als männliche Kollegen, sagt Jemc.

Anja Jemc mit Regisseur Christoph Diem ks).

Foto: Juliane Lehmayer

Zusammenprall zweier Generationen

Anja Jemc hat gepokert - und gewonnen. Sie kriegt ihr eigenes Stück. Am 22. Jänner feiert „Der Mentor" von Daniel Kehlmann Premiere im Linzer Landestheater. Kehlmanns zweites Theaterstück behandelt den Zusammenprall zweier Generationen, der jungen und der alten. Vordergründig geht es auch um die Eitelkeit und Einsamkeit von Künstler:innen.

Die Handlung, grob zusammengefasst: Ein alter Dichter, der mit seinem ersten Stück weltberühmt wurde und an diesen Erfolg nie mehr richtig anschließen konnte, wird eingeladen, fünf Tage lang Mentor für einen jungen Autor zu sein. Er soll mit ihm in einer Villa an dessen zweitem Stück arbeiten. Doch alles läuft schief, die beiden Künstler krachen immer wieder aneinander. Es geht um beinharte Konkurrenz, ausgelöst durch viele Missverständnisse. 

Diesen Generationenkonflikt kennt Anja Jemc. Als junge Frau und als Assistentin: „Als Regieassistentin bist du in einer ständigen Grauzone: Manchmal ist deine Meinung erwünscht, manchmal nicht. Das hängt immer vom Regisseur ab." Und dann als Jüngste „musst du dich doppelt so stark machen."

Räuber Hotzenplotz als Schlüsselmoment 

Bei all diesen Herausforderungen fragt man sie, ob sie sich noch an den ersten Moment erinnert, in dem sie das Theater verzaubert hat.  Anja Jemcs Augen glänzen wieder. Ohne zu zögern, erzählt sie. Es war die erste Theateraufführung im Kindergarten: Der Räuber Hotzenplotz. Der Räuber bleibt nicht auf der Bühne, er kommt hinunter zu den Kindern, stellte sich hinter die dreijährigen Anja und schnapp: er simuliert mit seinen Fingern eine Schere, als würde er ihr die Haare abschneiden. "Oh, so ein schöner goldener Zopf!", ruft er.

Hat sie sich da nicht gefürchtet? „Nein, es ist genau diese Magie, in die ich seither immer wieder eintauchen will.  Für mich war seither klar: Wenn ich das nicht mach, mach ich nichts", sagt sie.

Theaterfamilie

So liest sich heute auch ihr Lebenslauf: Mit sechs Jahren wird sie Teil der Kindertheatergruppe des Linzer Landestheaters. Sie wächst auf der Bühne auf, krebst zunächst noch zwischen den erwachsenen Schauspieler:innen herum, bis sie ihnen rasch auf Augenhöhe begegnet. „Ich war fasziniert von all den souveränen Charakteren. Meine Familie ist mit dem Landestheater plötzlich viel größer geworden." Weder mit der Schule noch mit dem Theater-, Film- und Medienwissenschafts-Studium in Wien wird sie warm, schlussendlich war sie bei mehr Premierenfeiern als Prüfungen anwesend. 

Als das ewige „Küken“ des Landestheaters versteht sie rasch, dass immer nur lieb sein, nicht reichen wird, um gesehen zu werden: „Ich bin zu Premierenfeiern gegangen und habe die Menschen einfach frech angequatscht. Nach dem Motto: ‚Hallo ich bin die Anja, mich gibt’s auch‘“. Und irgendwann, im Sommer 2019, kam der Anruf mit dem fixen Angebot für die Regieassistenz.

Öffnung des Theaters

Bei aller Begeisterung: Anja Jemc beginnt früh, das Theater kritisch zu hinterfragen. Sie weiß, sie will es anders machen - mit "Hotzenplotz-Momenten". Theater, das nicht von oben herab spielt, sondern Theater, das Mut beweist: zu Witz, zu Plattformen, die nicht unbedingt die große Bühne sein müssen. Und vor allem auch mehr Mut zum Imperfekten. „Darum geht’s doch oder? Nur so kann überhaupt gearbeitet werden. Wenn Raum für Authentizität ist.“

Die Art von Vorstellungen lassen sich vorerst nur in Hinterzimmern verwirklichen. Nach den offiziellen Feiern und Vorführungen. Am Dachboden des Landestheaters – mit Absprache des Hauses - organisiert Anja Jemc als Teil eines Kollektivs klein gehaltene Abende, wo Schauspieler:innen und Musiker:innen selbstgewählte Stücke vortragen. Im Lockdown wurde Jemc zudem Obfrau des Künstler:innen-Kolletivs „Die Spätschicht". 

Linzest 3000

Der Vorteil an einer vergleichsweisen kleinen Stadt wie Linz: „Die Leid kennen die Leid." So lassen sich verschiedene Talente geschickt miteinander verknüpfen. Hinter der Kamera, weiß Anja, wer vor die Kamera gehört. Die Kurzfilm-Serie „Linzest 3000“ (Linzest = Linz + Inzest – ein stadtbekannter Schmäh, dafür, dass jeder mit jedem irgendwie verbandelt ist) entsteht, gemeinsam mit Künstler:innen, denen „saulangweilig" war und es nur so unter den Fingernägeln brannte, etwas zu produzieren. Und wenn keine Bühne zur Verfügung steht, dann wird es eben YouTube.   

Akzeptiere bitte die Marketing Cookies, um diesen Inhalt zu sehen.

Cookie Einstellungen

Wieso ist Elektra immer blond und dünn?

Es sind Projekte, die aus einem Vakuum heraus entstanden sind, aber dann doch wieder Anja Jemcs Vision widerspiegeln: Kultur konsumierbar gestalten, mit magischen Räuber-Hotzenplotz-Momenten. Das Theater solle junge Menschen so selbstverständlich anziehen wie das Kino, meint sie und ergänzt: „Da geht noch viel mehr".

Damit meint sie nicht nur, was oder wie auf der Bühne gespielt wird – sondern auch wer spielt. Denn noch immer würden Rollen nach Klischees besetzt werden. "Warum muss Elektra immer dünn und blond sein?"

Regie auf Augenhöhe

Was sie außerdem als Assistentin für ihre neue Aufgabe gelernt hat?Sie habe vor allem gelernt, was sie einmal anders machen möchte, so die 22-Jährige: „Du lernst, wie du mit Leuten sprichst, auf Augenhöhe, höflich, ohne anzubrüllen." Cholerische Ausbrüche werden am Theater oftmals nach wie vor akzeptiert. Das sollte nicht normal sein dürfen.

Ein guter Regisseur sieht einen Schauspieler humpeln und gibt ihm Krücken.

Anja Jemc

Doch es erfordert auch Stärke, sich bewusst gegen all diese Muster zu stellen. Auch im Sinne des Stückes: „Ein guter Regisseur sieht einen Schauspieler humpeln und gibt ihm Krücken“, sagt Anja Jemc.

Aktuelle Produktionen des Linzer Landestheaters