Wenn der Burgtheater-Großmime seine Stimme in der Badeanstalt zum Erschallen brachte, übermannte einen das Gefühl, dass jede Sekunde „der Lappen“, so der Theaterjargon für den Vorhang, in die Höhe schnellt. Er sagte: „Die Formel ist paradox: Kritikerhymnen haben oft halb leere Häuser zur Konsequenz, bei Vernichtungen brummt öfter einmal die Bude bis zum letzten Platz.“

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Was mit der Tatsache zu erklären sein mag, dass der prototypische Kritiker des deutschsprachigen Raums das Theater noch immer als „moralische Anstalt“ verstanden wissen will und Ulkusfalten entwickelt, wenn es zu lustig wird. Diese Forderung nach moralischen Motiven entstammt einem Vortrag aus dem Jahr 1784, Autor: Friedrich Schiller. Der tugendtrunkene Kniefall des jungen Wilden hatte einen pragmatischen Hintergrund: Der 25-jährige Schiller wollte einen sicheren Job bei der kurpfälzischen Sprachgesellschaft. Bei der Uraufführung seiner „Räuber“ zwei Jahre zuvor hatte ein Zeitzeuge aus dem Publikum seine Eindrücke so geschildert: „Das Theater glich einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, Frauen wankten …“

Ohnmächtige gibt es heute nur mehr bei Konzerten von Harry Styles und Billie Eilish. Das Publikum sieht das Theater, dem Himmel sei Dank, nicht immer so, wie es Herr Schiller wollte. Es pocht auch auf sein Recht auf Unterhaltung und Eskapismus, was der hehre Kritiker in seinem geschmackspolizeilichen Selbstverständnis nur mit erhobenem Zeigefinger zu quittieren weiß. Ich bin überzeugt: Würde man einigen dieser Typen heute einen unbekannten Molière, Labiche oder unentdeckte Shakespeare-Verwechslungskomödien vorsetzen, gäbe es Reaktionen von: Derber Slapstick! Flache Witze! Billige Gags! Bunte Leere! Leider gibt es keine Blindverkostungen von Stücken wie bei Weinen, denn die Ergebnisse könnten blamabel für jene Zunft ausfallen, die oft ihre schwindende Bedeutung mit einer gewissen Zerstörungswut hochzujazzen versucht. Ganz im Sinn von Anton Kuh, der in einem anderen Kontext einmal brüllte: „Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht!“

Wahrscheinlich hat ein nicht zu geringer Anteil dieser Tadel-Truppe ein paar unveröffentlichte Stücke in der Schublade und auf dem Kaminsims eine Silberrähmchen-Armada von Fotos stehen, die unter den Arbeitstitel „Ich, ich und noch mal ich mit berühmten Menschen auf Tuchfühlung“ fällt. Es muss natürlich auf die Dauer verbitternd wirken, wenn der eigene Kreativitätsprozess sich auf das Rezensieren anderer Leute Kreativitätsprozesse beschränkt. Kishons Eunuchen-Sager („Sie wissen, wie es geht, aber sie können es nicht“) wurde schon allzu oft strapaziert, lassen wir ihn also.

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Es gibt und gab großartige Kritiker: von „liebender Überschätzung“ (Klaus Maria Brandauer) für die zu beargwöhnende Kunstgattung aufmunitioniert. Einige Kritiker hatten es sogar geschafft, ihre Stücke oder Novellen aus der Schublade an die Öffentlichkeit zu bringen: Sie hießen Gotthold Ephraim Lessing oder Theodor Fontane. Letzterer wirkte fast 20 Jahre als Theaterkritiker und warf im Alter von 70 dann doch das Handtuch, weil er diese Blicke, die oft sagten „Da sitzt das Scheusal“ nicht länger ertragen konnte. Er bilanzierte seinen Job mit den Worten: „Ich bin nicht ungern ins Theater gegangen. Wenn ich mal da war, habe ich mich immer amüsiert, auch wenn es scheußlich war.“

Zur Person: Angelika Hager

Sie leitet das Gesellschaftsressort beim Nachrichtenmagazin „profil“, ist die Frau hinter dem Kolumnen- Pseudonym Polly Adler im „Kurier“ und gestaltet das Theaterfestival „Schwimmender Salon“ im Thermalbad Vöslau (Niederösterreich).