Dmitry Golovnin: Der Fürst des Lichts
Er hat jeglichen Sinn für die Realität verloren und glaubt unerschütterlich an das Gute. Leo Nikolajewitsch Myschkin – dargestellt von Dmitry Golovnin – scheitert in Mieczysław Weinbergs letzter Oper „Der Idiot“ an seinen eigenen Ansprüchen und den Widrigkeiten der Welt. Österreichische Erstaufführung im MusikTheater an der Wien.
Man muss und kann nicht alles verstehen. So bleibt es wahrscheinlich für immer ein Rätsel, warum „Der Idiot“ – Mieczysław Weinbergs 1986 komponierte Oper – erst 2013 in Mannheim seine Weltpremiere erlebte. Und dies auch nur auf Betreiben des Dirigenten Thomas Sanderling, der den Komponisten noch persönlich kannte und dessen Witwe Irina mehrfach bei ihm insistierte, er solle sich doch mit der Musik ihres verstorbenen Mannes beschäftigen. Er tat, worum man ihn bat und war begeistert von der musikalischen Fülle. Vor allem „Der Idiot“ hatte es ihm angetan, wovon Thomas Sanderling auch Klaus-Peter Kehr, damals Operndirektor am Nationaltheater Mannheim, überzeugen konnte. 2013 kam es schließlich zur Uraufführung.
Dmitry Golovnin sang Fürst Myschkin, Vasily Barkhatov, vor zehn Jahren noch Student der Opernregie, saß im Publikum. Nun finden sich alle drei in Wien wieder, um „Der Idiot“ zur österreichischen Erstaufführung zu verhelfen.
Weltliteratur auf der Bühne
Die Handlung der Oper beruht auf Fjodor Dostojewskis gleichnamigem Roman und beleuchtet den von epileptischen Anfällen geplagten Fürsten Myschkin, der auf einer Zugfahrt vom Sanatorium zurück nach Sankt Petersburg den Kaufmann Rogoschin kennenlernt. In der Folge geht es um Abhängigkeiten, Wahnsinn und Mord, denn am Ende der Geschichte bleibt die von beiden Männern begehrte Nastassja als lebloses Opfer zurück.
Keine leichte Kost – und auch nicht einfach zu interpretieren. Dmitry Golovnin geht es bei unserem Treffen, wenige Tage vor der Premiere, dennoch erstaunlich gut. Der in Russland geborene und international tätige Tenor kennt die Rolle in- und auswendig, freut sich allerdings darauf, ihr in der Neuproduktion von Vasily Barkhatov aktuelle Facetten abgewinnen zu können. Ein genau überlegender Gesprächspartner, dem es keinesfalls an Humor fehlt.
Den diffizilen Charakter seiner Rolle beschreibt er so: „Er ist sehr vielschichtig. Kurz gesagt, erscheint er allen anderen wie ein Licht, eine Art Komet, der auftaucht und verglüht. Er beeinflusst das Schicksal vieler Menschen, fungiert als deren Gewissen, ohne, dass dies seine Absicht wäre. Die Leute sehen sich durch ihn wie in einem Spiegel. Ein außergewöhnlicher Mensch.“ Dass Myschkin in seinem Tun überhaupt eine Motivation hat, bezweifelt Dmitry Golovnin. „Er ist, wie er ist und kann die Schwächen der anderen erkennen. Sollte er tatsächlich eine Motivation haben, dann die, alles zum Guten zu wenden. Das ist natürlich unmöglich, trotzdem versucht er es. Was er tut, das geschieht mit Leidenschaft. Er ist eine weiche, zarte Person, aber mit starkem Rückgrat.“
Er erscheint allen anderen wie ein Licht, eine Art Komet, der auftaucht und verglüht. Er beeinflusst das Schicksal vieler Menschen, fungiert als deren Gewissen, ohne, dass dies seine Absicht wäre.
Dmitry Golovnin über Fürst Myschkin
Auch sein Interesse an der Rolle sei leicht erklärt. „Schauspieler träumen meist davon, die großen dramatischen Rollen, wie Othello oder Hamlet, zu spielen, bei denen sie ganz tief in die menschliche Seele vordringen können. Myschkin ist eine komplexe Persönlichkeit, und eine solche Figur, die Gutes tun will und mitten in einem Tornado landet, darzustellen, ist faszinierend.“
Und worin bestehen die gesanglichen Herausforderungen? „Es ist eine schwere Partie, denn Myschkin steht die ganze Zeit auf der Bühne. Die Rolle ist an vielen Stellen im Bruch geschrieben, also von der Mittellage in eine höhere Lage wechselnd, und das ist stimmlich schwierig. Man muss ganz zart sein, und in der nächsten Szene schreien wie Tannhäuser.“ Er halte seine Stimme „durch klugen Umgang“ fit. „Am Tag vor der Generalprobe singe ich zum Beispiel keinen einzigen Ton, obwohl es toll wäre, noch eine Probe mit dem Orchester zu haben. Aber ich muss mich für die Premiere zurückhalten.“
Leiden im Loop
Dass Mieczysław Weinberg über Jahrzehnte beinahe vollständig in Vergessenheit geraten war, sei wahrscheinlich Schicksal. „Man könnte auch fragen, warum Johann Sebastian Bach ein Jahrhundert lang nie gespielt wurde, ehe ihn der junge Felix Mendelssohn Bartholdy wieder aufgeführt hat? Wahrscheinlich kann man auch politische Gründe finden, aber ich denke, dass alles zur richtigen Zeit kommt. Obwohl es natürlich schade, nein, furchtbar ist, wenn ein Künstler den Erfolg seiner Werke nicht mehr erleben kann.“
Mit Regisseur Vasily Barkhatov kooperiert Dmitry Golovnin bereits zum vierten Mal. „Ich liebe die Zusammenarbeit mit ihm. Er schafft eine angenehme, humorvolle Atmosphäre, alles scheint leicht und einfach, man merkt erst am Ende, wie schwer der Prozess war. Man könnte das als Idealzustand bezeichnen.“
Man könnte auch fragen, warum Johann Sebastian Bach ein Jahrhundert lang nie gespielt wurde, ehe ihn der junge Felix Mendelssohn Bartholdy wieder aufgeführt hat?
Dmitry Golovnin auf die Frage, warum Mieczysław Weinberg in Vergessenheit geriet
Der solcherart Gepriesene erklärte seine Inszenierung in einem vorangegangenen Interview mit der BÜHNE so: „Eine Person mit derart bewussten Gefühlen wie Myschkin, welche die Leiden anderer Menschen wirklich nachempfinden kann und alles richtig machen will, würde auch in der modernen Gesellschaft scheitern. In meiner Inszenierung wiederhole ich die gleichen Umstände immer wieder und kehre stets zum Ausgangspunkt zurück. Es ist eine Art permanenter Loop, wie im Film ‚Und täglich grüßt das Murmeltier‘ mit Bill Murray. Man erleidet immer wieder dieselbe Folter, versucht, die Umstände zu ändern, schafft das aber nur in kleinem Maße. Das Ende bleibt immer gleich, der Leidensloop ist endlos.“
Vergangenheit im Orchester
Ehe Dmitry Golovnin als Opernsänger entdeckt wurde, studierte er Trompete und spielte diese auch professionell. „Ich habe zwar von Kindheit an gesungen, hatte aber nie den Wunsch, Sänger zu werden. Als ich bereits am Konservatorium war, wollte meine Mutter, dass ich neben dem Trompetenstudium private Gesangsstunden nehmen sollte. Aber ich wollte das auf keinen Fall. Schließlich hat mich aber ein Freund, auch Trompeter, dazu überredet. Er nahm ebenfalls Gesangsstunden, weil man durch das Singen angeblich auch besser spielt. Die russische Trompetenikone Timofei Dokschidzer hatte die fixe Idee, den Klang der Trompete dem der menschlichen Stimme so nah wie möglich zu bringen. Und wenn dir dann jemand sagt, du würdest besser spielen, würdest du auch singen, ist das natürlich verlockend.“
Es ist leider so, dass der ganze Vokalapparat ermüdet, wenn man spielt und singt, weshalb ich die Trompete aufgegeben habe. Hätte ich Cello gespielt, wäre das etwas anderes.
Dmitry Golovnin spielte Trompete, ehe er zum Gesang wechselte
Was also mit eindeutigen Hintergedanken begann, wurde allmählich zur Leidenschaft und schließlich zum Beruf. Er könne zwar heute noch Trompete spielen – „das ist wie Fahrradfahren, man verlernt es nicht“ – müsste, um wirklich gut zu sein, allerdings sehr viel üben. „Es ist aber leider so, dass der ganze Vokalapparat ermüdet, wenn man spielt und singt, weshalb ich die Trompete aufgegeben habe. Hätte ich Cello gespielt, wäre das etwas anderes.“
Angst als Qualitätskontrolle
Dmitry Golovnin erzählt, dass er zwar Lampenfieber nicht kenne, aber vor jeder Rolle Angst habe. „Das sollte man auch, denn man braucht diese Angst, um gut zu sein. Jeder, der sagt, es ist alles easy, lügt. Auch bei kleineren Rollen will man sich möglichst beweisen, man ist selbstverständlich vorbereitet, kann aber nie hundertprozentig sicher sein, dass es auch funktionieren wird. Diese Angst haben wir immer.“
Und als Tenor sei es vielleicht noch eine Spur schwieriger, weil diese Stimmlage für Männer eigentlich zu hoch sei. „Gerade Tenöre in mittleren Lagen oder im Spinto-Bereich müssen ihre Stimmen wirklich pflegen, Da muss man von vielen Dingen Abstand nehmen, um seine Stimme nicht zu überlasten.“
Es ist toll, ich spiele eine Rolle, freue mich darüber und werde dafür auch noch bezahlt.
Dmitry Golovnin fühlt sich auf der Bühne wie ein Kind
Er könne auch die Scheu vieler Menschen verstehen, vor anderen zu singen. „Für mich ist es auch einfacher, Opern zu singen, weil ich mich dabei hinter einer Rolle verstecken kann. Das bin dann nicht ich, sondern das ist eine Figur. Bei Konzerten ist das anders, da kommen die Besucher ausschließlich deshalb, weil sie dich hören wollen.“
Zum Schluss ein Tenorwitz
Seine Leidenschaft für die Bühne sei im Grunde eine kindliche. „Als Kinder spielen wir die unterschiedlichsten Charaktere, können in einem Moment Superman sein und im nächsten ein Löwe. Wenn ich auf der Bühne stehe, fühle ich mich auch wie ein Kind. Es ist toll, ich spiele eine Rolle, freue mich darüber und werde dafür auch noch bezahlt“. Herzhaftes Lachen.
Apropos: Welches ist sein Lieblings-Tenorwitz? Dmitry Golovnin überlegt. „Die meisten kann man nicht veröffentlichen … aber der geht: Ein Tenor hat in der Oper gesungen, ein anderer hat ihn dabei gehört. Am nächsten Tag treffen Sie einander, und der, der am Vorabend gesungen hat, will vom Kollegen wissen, wie er denn seine Leistung gefunden hätte. Dieser behauptet, es wäre gut gewesen, sehr schön. Darauf der andere: Nein, im Ernst! Na gut, in der ersten Arie war das C-Moll ein bisschen zu tief, im Duett mit dem Sopran warst du schleppend, im zweiten Akt gab es schon ein paar Krächzer in der Stimme, und im letzten Akt bist du offensichtlich müde geworden. Darauf der eingangs Fragende: Betrügt dich deine Frau eigentlich noch?“
Zur Person: Dmitry Golovnin
Dmitry Golovnin studierte zunächst Trompete, dann Gesang am St. Petersburger Konservatorium und an der Hochschule für Musik in Hamburg. Seine Karriere führte den Tenor an die international renommiertesten Häuser – darunter auch die Wiener Staatsoper und das Musiktheater an der Wien, wo er in Olga Neuwirths „American Lulu“ und in „Jungfrau von Orléans“ zu sehen war. Zu seinen jüngsten sängerischen Erfolgen zählt die Rolle des Sergej in Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“, die er heuer auch noch an der Wiener Staatsoper und im Bolschoi Theater geben wird. Im September 2023 feiert er mit „Carmen“ Premiere in Sankt Petersburg.