Drei Winter: Ein ganz großes Familien-Epos
„Doktor Schiwago“ trifft „Kirschgarten“ trifft die turbulente Geschichte Kroatiens. Das ist „Drei Winter“, das weltweit erfolgreiche Stück von Tena Štivičić. Martin Kušej verspricht für sein Burgtheater eine universelle Familiengeschichte voll des puren Lebens. Ein Stück, das „uns beseelt und nachdenklich“ macht.
Bei Geschichten ist es manchmal wie bei Bildern. Der Rahmen kann den Inhalt zerstören, ihn retten – oder perfekt machen. Tritt letztgenannter Fall ein, dann kommt in der Vorberichterstattung noch ein (Luxus-)Problem dazu: Was bespricht man mit dem Regisseur und der Autorin, wenn im Stück-Text alles geschrieben und gesagt ist? Hier unser Versuch.
Tena Štivičić erzählt mit „Drei Winter“ eine Familiengeschichte, die sowohl in ihrem Heimatland Kroatien als auch in London und Japan erfolgreich war.
Drei Jahreszahlen markieren die Wendepunkte: 1945, Kriegsende und Beginn der Tito-Ära; der sich ankündigende Zerfall Jugoslawiens 1990; und das Jahr 2011, als sich Kroatien (als zweite Teilrepublik nach Slowenien) in die EU aufmacht.
Von Tito bis zur EU
Die gesamte Handlung spielt in diesen drei Wintern in einem Haus in Zagreb: Die Familie Kos streitet sich, passt sich an, man verliebt sich und verliert sich wieder. Eine Welt nach der anderen wird um sie herum aufgebaut und wieder abgerissen. Die einzige Konstante ist das efeubewachsene Haus – erbaut von Aristokraten, aufgeteilt, im Besitz von allen, im Besitz von einigen wenigen; Zeuge von vier zunehmend gebildeten und unabhängigen Frauengenerationen. Doch als sich die Familie zur Hochzeit von Lucija versammelt, erfährt Alisa, dass ihr neureicher Schwager das einst verstaatlichte Haus gekauft hat. Für die Braut ist das ein Fortschritt, für ihre Schwester ein Akt der Gier. Für ihre prinzipientreuen Eltern schließlich ist es eine Schlacht zu viel.
Das Stück ist ein Meisterwerk großzügig, überraschend, wirkungsvoll.
„The Guardian“ (London), Premierenkritik
Wer „Doktor Schiwago“ mag, ist hier richtig; wer „Kirschgarten“ mag, ebenso. Wer große Familiengeschichten mag, muss es sehen. Wer fassungslos auf das politische Geschehen in Ex-Jugoslawien schaut, ebenso: Selten war Geschichte und Wandel so rasant und hautnah mitzuerleben wie in der liebsten Urlaubsdestination der Österreicher.
Am Besprechungstisch des Direktors
Über dem Bühneneingang des Wiener Burgtheaters befindet sich der Balkon des Direktors – man sieht hinüber zum nahen Volksgarten. Im dazugehörigen Büro setzen wir uns mit Tena Štivičić, der Autorin, und dem Regisseur und Hausherrn Martin Kušej an dessen Besprechungstisch zusammen.
Vor zehn Jahren hat Kušej für die Wiener Festwochen drei Stücke des kroatischen Literaten Miroslav Krleža – die Familiensaga „In Agonie“ – zu einem sechsstündigen Theaterabend kompiliert und einen Sensationserfolg gelandet. Gute Voraussetzungen.
„Für mich ist diese Geschichte exorbitant nah. Ich habe durch meine eigene Geschichte als Kärntner Slowene und die Geschichten, die sich daraus ergeben – Zweiter Weltkrieg, die Partisanen-Erzählungen meines Vaters –, eine sehr starke Affinität zum Thema des Partisanenkriegs. Ich habe ein Jahr meines Lebens in Ex-Jugoslawien gearbeitet und den slowenischen Bürgerkrieg gestreift, und ich habe viele Freunde in allen Ländern. Wir Künstler und Theaterschaffende verstehen uns sehr, sehr gut und schauen völlig unverständlich auf den Nationalismus.“
Dass heute bei unserem Termin Tena Štivičić neben ihm sitzt, ist einem Zufall zu verdanken: „Das Stück ist bei einer Dramaturgiesitzung am Tisch gelegen, und ich habe gesagt: Ah, interessant, lese ich mir durch. Ich habe recherchiert und bin draufgekommen, dass ihr zweites Stück in Ljubljana Premiere hat, bin hingefahren, wir haben uns kennengelernt und beschlossen, es zu machen. Mir war klar: Dieses Stück muss im Burgtheater gezeigt werden, weil es unser Erbe ist.“
Erfolg in London
Tena Štivičić, geboren in Kroatien, lebt seit Jahren in Großbritannien. Als ihr Stück vor nicht ganz zehn Jahren am Londoner Lyttelton Theatre Premiere feiert, schreibt die Kritik: „Das Stück ist ein Meisterwerk der Überzeugung und Verzauberung.“ Einer von Štivičićs Regiekollegen sagte damals: „Es ist die Wiedergeburt des historisch-politischen Theaters.“
Tena Štivičić lächelt und wird sofort wieder ernst: „Es ist nicht die Geschichte meiner Familie. Aber wir sind fünf Generationen von starken Frauen. Meine Urgroßmutter war ein Dienstmädchen. Sie wurde schwanger und dann stigmatisiert. Sie hatte keine eigene Stimme, aber sie wollte, dass ihre Kinder es besser haben und Bildung erhalten. Meine Mutter und meine Tante waren die Ersten, die auf die Universität gingen, und ich war dann die Erste, die in ein anders Land ging. Ich habe jetzt eine Stimme, die in zwei Sprachen spricht. Dieser Aufstieg hat natürlich mit dem Sozialismus zu tun. Er veränderte die Möglichkeiten.“
Der vierte Winter
Und jetzt? Wieder ist in Europa ein Kriegswinter vorbeigezogen. Wird Štivičić ihr Stück aktualisieren, anpassen? Sie schüttelt den Kopf. „Das Stück ist das Stück. Es ist abgeschlossen. Vielleicht schreibe ich einmal ein eigenes Werk darüber.“
Kušej setzt nach: „Für mich spielt dieser ‚vierte Winter‘ ideell eine Rolle. Das wird in der Bildsprache stattfinden. Denn es gibt schon wieder eine kriegerische Auseinandersetzung am Rande von Osteuropa, der die ganze Weltpolitik beeinflusst, und da kann man nicht darüber hinweggehen.“
Es ist an der Zeit, über die Inszenierung zu reden. Štivičić hat in ihrem Buch klare Anweisungen gegeben: Rückblicke sowie Fotos aus dem Familienalbum muss es geben.
Frühere Aufführungen hatten als zentrale Anlaufstellen die Tische, an denen gefeiert, gestritten und getrauert wurde.
Dieses Stück ist das pure Leben.
Martin Kušej, Regisseur
„Ich gehe einen anderen Weg und löse das Stück anders auf. Ich habe eine Textfassung gemacht, in der der Wechsel der Zeiten viel schneller ist und öfter stattfindet, und vor allem habe ich versucht, jene Szenen, die sich an Tischen vielleicht ein wenig in die Länge ziehen, schneller zu machen und einen neuen szenischen Bogen zu spannen. Ich wollte für diese Familiengeschichte eine neue, internationale und überregionale Theatersprache finden. Bilder, die nicht realistisch sind, sondern eher psychische Zustände, Traumvisionen abbilden – sodass es auch auf der großen Bühne des Burgtheaters funktioniert. Eigentlich ist das Stück für kleine Theater gemacht, aber in unserer Version wird es genügend ‚Verdrängung‘ haben, um zu reüssieren.“
Und wie ist das mit dem Haus oder der Wohnung, die ja über die Jahrzehnte mit den Bewohner*innen mitlebt?
Kušej: „Diese Wohnung gibt es als immerwährend gleichbleibenden Raum, der mit verschiedenen Emotionen, Konflikten, Banketten, Hochzeiten, Begräbnissen, Sex und Streit ausgefüllt wird. Es ist immer ein anderer Raum – auch wenn er immer gleich aussieht.“
Das pure Leben
„Ich war gestern bei den Proben“, sagt Autorin Štivičić, „und bin davon begeistert, wie Martin jene Geschichten gefunden hat, die zwischen den Zeilen passieren.“
„Wenn ich etwas kann, dann das Herauskitzeln, zeigen, was in den Stücken drinnen ist. Wir sind mitten im Probenprozess“, sagt der Gelobte. „Dieses Stück ist das pure Leben. Wenn man nicht den Fehler begeht, punktgenau in dem regionalen Bereich stehen zu bleiben, sondern diese Inszenierung ein bisserl aufbricht, dann wird das super funktionieren. Es ist ein Stück, das viele Bereiche in uns triggert. Es ist ein gutes Stück, weil es viel über Menschen, Familien, Träume und das Verhaftetsein in der Vergangenheit erzählt.“
Die Länder des ehemaligen Jugoslawiens und ihre Geschichte: Wie sehr steht die einer Zukunft eigentlich im Weg?, fragen wir Tena Štivičić.
Die Autorin überlegt kurz und sagt: „Es ist ein Weitermachen notwendig, das aber schwer zu bewerkstelligen ist, solange nicht alle beteiligten Länder einen kritischen Blick auf sich selbst werfen und die Verantwortung für ihre Handlungen während der Kriegszeiten übernehmen. Solange dies nicht vollständig und ehrlich geschieht, werden wir uns immer in einem Strudel des Rückblicks befinden. Ich glaube wirklich, dass die Menschen eine enorme Fähigkeit zur Vergebung haben, und dieses Stück ist voll von Figuren, die in Schlüsselmomenten mitfühlend handeln. Wir sind eine Region, die eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Geschichte hat, und viele Menschen haben den Wunsch, zusammenzuarbeiten, sich auszutauschen und friedlich und respektvoll miteinander zu leben. Aber was unsere Länder durchgemacht haben, hat viele gebrochene Menschen zurückgelassen. Ob sie jemals wieder ganz heilen können, ist eine große Frage.“