Am 23. November 2006 trinkt der ­russische Dissident und ehemalige FSB-Offizier Alexander Litwinenko, seit kurzem Inhaber der britischen Staatsbürgerschaft, einen mit hochradioaktivem Polonium vergifteten Grüntee. Wenige Wochen vor seinem qualvollen Tod in einem Londoner Krankenhaus geht ein Foto, auf dem der von den Folgen der Vergiftung sichtlich gezeichnete Litwinen­ko direkt in die Kamera blickt, um die Welt. Ein Blick, der zwar mehr als tausend Worte sagt, gleichzeitig aber nach mindestens ebenso vielen Antworten verlangt. Luke Harding, ehemaliger Moskau-Korrespondent des „Guardian“, stürzt sich daraufhin in die Rekons­truktion des Mordes mitsamt all seinen hochkom­plexen Verflechtungen und Verstrickungen. Das Ergebnis: mehr als 200 Seiten und deutlich mehr als tausend Worte, die dennoch viel Raum für Fragen offen lassen. 

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Tiefgehende Recherche 

Die britische Dramatikerin und Drehbuchautorin Lucy Prebble, die unter ­anderem für das Drehbuch zum Serienhit „Succession“ verantwortlich zeichnet, stützt sich in ihrem Stück „Extrem teures Gift“ dabei auf Hardings Abhandlung, erzählt die Geschichte von Alexander Litwinenko und seiner Frau Marina aber keineswegs auf lineare ­Weise. Ihre Art der Darstellung entspricht nicht der klassischen chronologischen Schichtung von Ereignissen, sondern eher einer Ver­mischung unterschiedlicher Ebenen, die teilweise sogar surreale Züge aufweisen.

Zwischen Politthriller und skurriler Farce oszillierend, macht Prebble in ihrem Stück einen Kosmos auf, in dem es um mehr als den Mord an Litwinenko geht. „Schon der dramaturgische Aufbau des Texts zeigt, dass Lucy Prebble nicht einfach ein Dokumentar-Theaterstück schreiben wollte“, sagt Sophie von Kessel, die in der deutschsprachigen Erstaufführung des 2019 uraufgeführten Stücks die Rolle der Marina Litwinenko übernimmt.

Daniel Jesch, seit der Spielzeit 2000/01 Ensemblemitglied am Burgtheater, spielt Alexander Litwinenko. Zur Vorbereitung auf seine Rolle ist der gebürtige Münchner tief in den Mordfall und alle damit verbundenen Vorkommnisse eingetaucht. „Ich habe mir einen Stapel Bücher gekauft und viel im Internet recherchiert“, erzählt Jesch, den wir gemeinsam mit Sophie von Kessel zum Gespräch im Burgtheater direkt nach den Proben zu „Extrem teures Gift“ treffen. „Das erlaubt es mir, tiefer in Dinge, die ich damals nur sehr oberflächlich in den Nachrichten mit­bekommen habe, einzusteigen. Es ist nicht nur spannend, sondern auch erschreckend, weil man plötzlich sieht, wie durch und durch korrupt dieses System ist“, fügt der Schauspieler hinzu. „Ich empfinde es als großen Luxus, dass es auch Teil meines Jobs ist, mich mit all diesen Themen zu beschäftigen.“

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Eine wichtige Sache

In den Proben sind immer wieder Themen zentral, die auch für das Stück wichtig sind, berichtet Sophie von Kessel. „Gerechtigkeit, Manipulation, Liebe und Angst. Und auch darüber, wie es ist, in der Fremde zu leben – was das mit einem Menschen macht.“

Mit ihren Bearbeitungen von Schlüs­sel­ereignissen der jüngeren Wirtschafts- und Politgeschichte gelang es Lucy Prebble, sich über die britische Thea­ter­landschaft hinaus einen Namen zu machen. „Im Theater gibt es viele sehr geschmackvolle und raffinierte Arbeiten, die natürlich auch ihre Berechtigung haben. Ich empfinde das aber nicht als repräsentativ für das Leben, das mir aktuell grausam, geschmacklos und roh vorkommt“, so die Autorin in einem 2019 geführten Interview mit dem „Guardian“. „Rambunctious“, fügt sie abschließend hinzu – also „lärmend, laut und wild“.

Extrem teures Gift

Foto: Marcella Ruiz Cruz

Über ihre Arbeit an „Extrem teures Gift“ sagt sie außerdem: „Ich gehöre nicht zu jenen Autor*innen, die in ihren Theaterstücken ständig das eigene Leben erforschen möchten. Es ist eine ­große Herausforderung, die Leute dazu zu bringen, ihr Geld für Theaterkarten auszugeben. Ich möchte sie nur dann damit belästigen, wenn ich das Gefühl habe, dass es um eine wichtige Sache geht. Und das hier empfand ich als sehr wichtig.“

Bei Stücken, die von realen Personen handeln, stellt sich außerdem immer die Frage, inwiefern man sie nachzuspielen versucht oder eine Überhöhung sucht – „also dass man gar nicht erst probiert, sie auf naturalistische Weise wiederzu­geben“, wirft Sophie von Kessel ein. Würde man Ersteres versuchen, zöge man mit hoher Wahrscheinlichkeit immer den Kürzeren, schließt sie ihre Gedanken ab. Daniel Jesch sieht das ähnlich: „Das würde außerdem darauf hinauslaufen, dass sich die Menschen im Publikum die ganze Zeit fragen, wie gut wir diese Personen nun nachgespielt haben. Gerade bei jemandem wie Putin, der auch im Stück vorkommt, würde ich diesen Vergleich gar nicht antreten wollen.“

Mir wurde Marina immer wieder als sehr klare, starke und selbstbewusste Frau beschrieben, die sich konsequent auf die Seite ihres Mannes gestellt hat – und deren Kampf bis heute andauert.

Sophie von Kessel

Große Liebe

Auch die Liebesgeschichte zwischen Alexander Litwinenko und seiner Frau Marina wird in der Inszenierung eine wichtige Rolle spielen. „Mir wurde Marina immer wieder als sehr klare, starke und selbstbewusste Frau beschrieben, die sich konsequent auf die Seite ihres Mannes gestellt hat – und deren Kampf bis heute andauert,“ ergänzt Sophie von Kessel

Für Daniel Jesch ist es eine Beziehung, die auf Augenhöhe stattfindet. „Lit­winenko hat es so beschrieben, dass in dem Moment, als er sie kennengelernt hat, sein Leben erst begonnen hat. Dieses Gefühl kennzeichnet diese Beziehung von Anfang an.“

Nach ihren Rollen in „Das Himmelszelt“ und „Die Ärztin“ ist es nun die dritte starke Frauenfigur, die Sophie von Kessel seit ihrem Wechsel von München nach Wien verkörpert. „Gut so“, stellt die Schauspielerin fest. „Es ist nun hoffentlich endlich die Zeit gekommen, mehr solcher Figuren auf die Bühne zu bringen.“ Eine zweite Sache zog sich durch: „Ich habe in letzter Zeit häufig mit Regisseur*innen aus dem angloamerikanischen Raum zusammengearbeitet. Es war spannend, sich auf ihre Herangehensweisen einzulassen, die insgesamt doch anders waren, als ich das aus Deutschland und Österreich kannte.“

Für Daniel Jesch gehört es zu den Grundvoraussetzungen des Berufs, im Kopf offen für Neues zu bleiben. „Durch all die unterschiedlichen Blicke von außen lernt man sich selbst besser kennen und kommt immer wieder auf neue Gedanken und Ideen.“ Vor allem dann, wenn diese Blicke mehr als tausend Worte sagen.

Zur Person: Sophie von Kessel

Die 52-Jährige wurde in Mexico City geboren, studierte am Max Reinhardt Seminar und an der Juilliard School in New York und war vor ihrem Engagement am Burgtheater Ensemblemitglied am Münchner Residenztheater. In den Jahren 2008 und 2009 spielte sie die Rolle der Buhlschaft bei den Salzburger Festspielen. Seit der Spielzeit 2019/20 gehört sie zum Ensemble des Burgtheaters.

Zur Person: Daniel Jesch

Der gebürtige Münchner erhielt seine Schauspielausbildung an der Theaterhochschule Zürich von 1998 bis 2000. Seit der Spielzeit 2000/2001 gehört Jesch dem Ensemble des Burgtheaters an. Er arbeitete hier bereits mit Martin Kušej zusammen und stand in dessen Inszenierung von „König Ottokars Glück und Ende“ (2005) auf der Bühne. Aktuell ist er unter anderem in „Adern“ (Foto) und „Geschichten aus dem Wiener Wald“ zu sehen.

Zu den Spielterminen von „Extrem teures Gift“ im Kasino am Schwarzenbergplatz!