Vom Dorf in die Welt
Patricia Nolz kommt aus dem 48-Einwohner-Ort Pultendorf in Niederösterreich. 2020 kam sie ins Opernstudio der Wiener Staatsoper und ist nach nur drei Jahren zu einer der begehrtesten Stimmen der Opernwelt geworden.
Manchmal können 6,1 Kilometer ganz schön weit sein. Wenn man hinter dem St. Pöltner Hauptbahnhof die Goldegger Straße nimmt, dann über Waitzendorf zockelt, in Afing rechts abbiegt und in Richtung Neidling fährt, sollte man das Tempo drosseln, weil sonst ist man auch schon wieder durch Pultendorf durch. Rechts Felder. Links Felder. Dazwischen das Areal von Rosenbauer, dem größten Feuerwehrausstatter der Welt. Ein paar Häuser. Dann wieder Felder. Hier ist Patricia Nolz aufgewachsen.
Wir sitzen in einer der Sologarderoben der Wiener Staatsoper und warten auf die Mezzosopranistin, die sich innerhalb von nur drei Saisonen zu einem der Publikumslieblinge der Wiener Staatsoper gesungen hat. Ihre Karriere im Schnelldurchlauf: 1995 geboren. 2019 Abschluss des Studiums an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. 2020 ihr Debüt als Cherubino am Theater an der Wien. Dann Opernstudio der Staatsoper. Dort brilliert sie als Zerlina in „Don Giovanni“, als La Musica / La Speranza in „L’Orfeo“ (wir lassen ein paar Rollen aus) und dann wieder als artistischster und komödiantischster Cherubino aller Zeiten in Koskys „Le nozze di Figaro“.
Nach der „Figaro“-Premiere trafen wir zufällig Ausnahme-Sänger Florian Boesch am Gang im ersten Stock der Oper. Stolz war er. Gerührt. Er, einer der Lehrer von Nolz. Ein Zitat für diese Geschichte wollten wir, aber er winkte ab: „Diese Geschichte gehört Patricia Nolz ganz allein.“ Es ist die echte Bescheidenheit, die rührt.
Ich habe die Callas singen gehört und bin in Tränen ausgebrochen. Ab da wollte ich wissen, wie man solche Emotionen auslöst.
Patricia Nolz
Die Tür zur Sologarderobe geht auf. Kurz war Patricia Nolz in der Maske. Zwei Outfits hat sie aus ihrem Kleiderschrank für das Shooting mitgebracht. Einmal casual, einmal Abendkleid.
„Mit was fang ma an?“, fragt sie lachend. Ein wenig hört man – auch nach all den Jahren in Wien – einen leichten niederösterreichischen Dialekt. Stimmig. „Ich würd sagen, mit dem Interview.“ – „Passt.“
Die Oper und Sie – wie kam das?
In meinem Fall kann man sagen, dass die Oper mich gefunden hat. Ich komme aus keiner sehr musikalischen Familie. Die Wahrscheinlichkeit, Opernsängerin zu werden, lag eigentlich bei null. Aber ich hatte eine tolle Musiklehrerin in der Schule, die uns die Klassik nähergebracht hat. Ich habe damals Querflöte gespielt und leidenschaftlich gerne gesungen – vor allem Musicals. Wenn ich bei meiner Mutter im Auto mitgefahren bin, habe bei längeren Fahren mitgeschrien, bis ich heiser war. (Lacht.) Und ich war durch das
Querflötespielen so begeistert von dem klassischen Repertoire, dass ich mich gefragt habe, ob man das nicht auch singen könnte. Einmal haben meine Eltern auf meinen Wunsch eine Best-of-Opera-CD bestellt. Die erste Nummer darauf war „Un bel dì, vedremo“ aus „Madama Butterfly“, gesungen von Maria Callas. Ab diesem Moment wollte ich nur mehr eines wissen: Wo kann man lernen, so zu singen?
Sie wollten ins Scheinwerferlicht?
Da gibt’s zwei verschiedene Aspekte: einmal unbedingt im Scheinwerferlicht stehen zu wollen und auf der anderen Seite den Drang, irgendwie seine Emotionen auszudrücken. Letzteres war immer der stärkere Ansporn für mich. Ich habe die Callas gehört und bin in Tränen ausgebrochen – ohne ein einziges Wort zu verstehen. Ich wollte wissen, wie das geht, jemanden allein durch den Ausdruck und die Farben im Gesang zum Weinen zu bringen. Das kann nur aus etwas Echtem kommen, aus einer echten Empfindung. Dabei hilft dir keine Pose, keine einstudierte Körperhaltung, sondern nur gemeinte menschliche Emotion. Das war mir intuitiv schnell bewusst.
Zur Person: Patricia Nolz
Startete ihre Gesangskarriere mit 17 am Konservatorium für Kirchenmusik in St. Pölten. Sie belegte kurz ein Medizinstudium und schloss 2019 ihr Gesangsstudium an der mdw mit Auszeichnung ab. Sie war 2020 eines der Talente im neu gegründeten Opernstudio und wechselte in dieser Saison ins Ensemble der Wiener Staatsoper.
Zwischen Wollen und Können liegt oft der Marianengraben. Sie haben ja zuerst Medizin zu studieren begonnen. Warum?
Meine erste Gesangslehrerin hat mir – was eine mögliche Karriere als Sängerin betrifft – gemischte Signale gegeben. Sie meinte, dass die Konkurrenz so groß sei, dass es schwierig werde, erfolgreich diesen Weg einzuschlagen. Da habe ich mir gedacht: Ich lasse das Schicksal entscheiden und gehe zur Medizin-Aufnahmeprüfung. Sollte ich auf Anhieb bestehen, mache ich das. Ich habe sie bestanden und sagte mir: Okay, mache ich, kann ich mir vorstellen. Aber dann wurde mir im ersten Studienjahr das Vermissen der Musik und das Was-wäre-wenn-Gefühl zu groß. Ich wollte mir später nie sagen müssen: Hätte ich es doch wenigstens versucht.
Sie haben das Glück, dass Ihre Stimme einen unglaublichen Wiedererkennungswert hat.
Die Rückmeldung der Wiedererkennbarkeit bekomme ich schon seit Schulchorzeiten immer wieder. Aber die erste Person, die mir gesagt hat, „Du hast eine Stimme, die erkennt man. Du hast eine Stimme, aus der kann man was machen. Ich glaube an dich“, die war Professorin Claudia Visca, die bis heute meine Gesangslehrerin ist.
Ein anderer Ihrer Lehrer – und jetzt stolzer Fan – ist Florian Boesch. Wie haben Sie einander gefunden?
Mir sind bei Klassenabenden die Studierenden aufgefallen, die von Florian Boesch gekommen sind: Da kam immer etwas Individuelles. Mich hat das interessiert. Ich habe ihm dann vorgesungen, und wusste sofort, dass ich mit ihm arbeiten möchte. Das war 2019, und seitdem ist Florian Boesch einer meiner wichtigsten Wegbegleiter. Er ist für mich eine echte Inspiration, den Mut zu haben, man selbst zu sein – nicht nur schneller, höher, weiter zu wollen, sondern den Blick darauf zu richten: Wer bin ich, und was will ich als Künstlerin?
Und wie ging es so schnell an die Staatsoper?
Im Jänner 2020 war ich beim finalen Vorsingen für das Opernstudio, und unter anderem saß da Direktor Bogdan Roščić. Ich habe meine Arie gesungen – er hatte die ganze Zeit den Blick auf seine Unterlagen gerichtet, aber irgendwann hat er aufgeschaut und Blickkontakt mit mir aufgenommen. Ich dachte mir in diesem Moment: Ich glaub, jetzt hat er etwas gespürt ... (Lacht.)
… und schon waren Sie auf dem größten Operntanker der Welt. Kommt da nach der ersten Euphorie nicht gleich die Depression?
(Lacht.) Dafür hatte ich keine Zeit, weil meine erste Produktion gleich die Eröffnungspremiere der „Butterfly“ war. Ich stand plötzlich mit Asmik Grigorian auf der Bühne. Ich hatte zwar nur vier Sätze zu singen – aber ich war in der Produktion drin. Es war der denkbar größte Sprung ins kalte Wasser. Ich hatte kaum Zeit, im Haus anzukommen und die Abläufe zu verstehen. Es war ein besonderer Einstieg– und das Plakat hängt noch immer in meiner Wohnung.
Sie hatten sofort gute Kritiken.
Ja, es waren alle sehr freundlich. Es war alles so surreal. Plötzlich den eigenen Namen auf Besetzungslisten und in Zeitungsartikeln neben den eigenen Idolen zu sehen. Dazu das Suchen nach dem eigenen Platz. Die ständigen Lockdowns. Die Streamings. Es wäre schon ohne den ganzen Corona-Wahnsinn für mich völlig verrückt gewesen, wie sich das Leben in kurzer Zeit so verändert, aber der ständige Ausnahmezustand war zusätzlich extrem herausfordernd.
Zwischen „Es passiert“ und „Ich verstehe, was da passiert“ ist auch noch einmal ein Unterschied …
Um ehrlich zu sein: Ich bin im Verarbeiten von vielen Vorgängen in meinem Leben immer ziemlich hinterher – auch weil alles so dicht getaktet ist. Ich arbeite dann im Sommerurlaub den März, den April, den Mai, den Juni nach. (Lacht.) Ich muss mir dann vergegenwärtigen, was da alles geschehen ist. Ich habe vor kurzem im „Parsifal“ kleine Rollen gesungen: einen Knappen, ein Blumenmädchen. Da hat man auf der Bühne viel Zeit, dieses wunderbare Orchester und die berühmten Kollegen zu beobachten. Ich denke dann oft: Wow, was für ein Privileg, mit solchen Menschen hier sein zu dürfen!
In Ihrer Rolle als Cherubino müssen Sie singen, springen, laufen – und das alles exakt getimt.
Ich muss auch stürzen, rollen, mich auf der Bühne umziehen – und alles muss auf die Sekunde stimmen. Ich habe zwar immer schon Sport gemacht, musste aber meine Fitness für diese Rolle ordentlich upgraden. Ich wusste zuerst nicht, ob ich das Rollenprofil schaffe, ohne die Puste zu verlieren. Ich bin dann sechs Wochen lang beim Üben zu Hause seilgesprungen und habe dazu gesungen.
Gab’s da Beschwerden?
Ein Nachbar hat mir einen Zettel an die Tür gehängt, darauf stand: „Sie singen zwar sehr schön, aber unglaublich laut.“ (Lacht.) Es war ein Sonntag …
Wo soll es noch hingehen?
Mein größter Fokus liegt darin, mich immer weiter zu verbessern und meine innere Klarheit darüber, was ich in meinem Singen will, zu schärfen. Ich mag es nicht, wenn ich an meinen eigenen Beschränkungen scheitere – das macht mich wahnsinnig. Ich investiere all meine Energie, um diese – meine eigenen – Widrigkeiten, seien sie technischer, musikalischer oder emotionaler Natur, aus dem Weg zu räumen, um nach und nach die maximale Freiheit und ehrliche Qualität in meinem Tun zu erlangen. Das ist meine Art von Ehrgeiz, mein Arbeitsethos. Ich finde, dass ich diese Verantwortung habe den Menschen gegenüber, die mir mit Offenheit und Neugier zuhören und zusehen.