Michael Köhlmeier: Kunst ist als ob
Der Rahmen tat, als ob Kunst wäre, was er umfasst. Die Geschichte zu diesem Satz finden Sie in der letzten Spalte. Lesen Sie bitte aber auch, was davor steht.
Daidalos war der berühmteste Erfinder der Antike.
Lange hielt die Göttin Pallas Athene ihre Hand über ihn. In seiner Jugend aber war er Bildhauer gewesen. Er baute Menschen nach. Die stellte er in Athen auf den Marktplatz. Dann hat er gehorcht, was die Leute sagen. Sie sagten: „Diese Figuren, die sehen fast so aus, als ob sie lebten. Fast!“Das „fast“ machte ihn zornig und das „als ob“. Er forschte und experimentierte und kam drauf: Die Bewegung fehlt. Da hat er aus seinen Figuren Maschinen gemacht. Nun bewegten sie sich. Und was geschah? Nichts geschah. Die Leute sagten: „Man hat schon lange nichts mehr von Daidalos gehört. Was macht er? Macht er noch etwas?“ Seine Figuren, die sich auf dem Marktplatz von Athen bewegten, sahen aus wie lebendige Menschen. Niemand konnte sie von wirklichen Menschen unterscheiden, niemand hat sich um sie gekümmert. Niemand dachte: Als ob sie lebendig wären. Alle glaubten, sie seien es. Das ist interessant!
Kunst und ihre Wahrnehmung
Es ist besonders interessant, wenn wir uns vor Augen halten, was ein Landsmann von Daidalos, nämlich Aristoteles, über die Kunst sagte: Sie solle die Natur nachahmen. Je genauer die Kunst die Natur nachahme, desto besser sei sie. Daraus darf ich schließen, dass die beste Kunst jene ist, die der Natur so ähnlich sieht, dass sie sich nicht mehr von ihr unterscheiden lässt. Diese Kunst aber wird – wie die Anekdote über Daidalos erzählt – nicht mehr als solche wahrgenommen. – Wenn das kein Dilemma ist!
Man wird darauf antworten, inzwischen strebt die Kunst nicht mehr danach, die Natur nachzuahmen, schon lange tut sie das nicht mehr. Am deutlichsten wird das bei der abstrakten Kunst, ein später Kandinsky hat mit der Natur gar nichts mehr zu tun und ein Joan Miró auch nicht und Jackson Pollock erst recht nicht. Darauf wiederum ließe sich entgegnen, das alles war einmal, die wirklich modernen Wege der Kunst – so modern, dass sie sich sogar über die Bezeichnung „Kunst“ erheben – werden nicht mehr von der Malerei oder – um bei der Daidalos-Geschichte zu bleiben – der Bildhauerei gewiesen, sondern von der KI, der künstlichen Intelligenz, und ihren schier unglaublichen Möglichkeiten. Diese Artefakte erzeugen eine Naturgleichheit, die hinter den Meldungen unserer Sinnesorgane über die „wirkliche“ Natur nicht zurücksteht. Jenseits der „wirklichen“ Natur schaffen sie eine Natur in unserem Kopf.
Zur Person: Michael Köhlmeier
Der renommierte Schriftsteller mit Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman Matou
Im Jahr 1964 erschien der Science-Fiction-Roman „Simulacron-3“ des amerikanischen Schriftstellers Daniel Francis Galouye – aus heutiger Sicht eine geradezu unglaubliche Vision, wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit die meisten Menschen, zumal in Europa, von der Existenz der Computertechnologie nicht nur wenig, sondern gar nichts wussten. Die Geschichte ist verstörend: Der Betreiber eines Marktforschungsinstituts lässt einen Riesencomputer bauen, der in der Lage ist, eine Großstadt bis ins Detail zu simulieren. Das sind tausende Bewohner, die so umfassend präzise gestaltet sind, dass sie ein eigenes Bewusstsein entwickeln. Dieses Bewusstsein sagt ihnen, dass sie lebendige Men- schen sind. Sie bluten, wenn sie gestochen werden, sie lachen, wenn man sie kitzelt, sie sterben, wenn man sie vergiftet, und wenn sie beleidigt werden, rächen sie sich. Sie leben wie wir. Der Protagonist der Geschichte, der Direktor des Instituts, der diese simulierte Welt lenkt, entdeckt eines Tages, dass auch er und alle Menschen, die ihn umgeben, dass seine ganze Welt ebenso wenig real ist, sondern von einer noch höheren Realität aus gelenkt wird.
Kann ein „Mensch“, der diese Einsicht gewonnen hat, noch ein Mensch sein? Die Frage ist paradox und absurd. Kann in dieser Welt überhaupt von Kunst und Realität gesprochen werden? Sind beide gleich oder nicht? – Fünfunddreißig Jahre vor dem Kultfilm „Matrix“ wurde dieser Roman geschrieben!
Natur entsteht im Kopf, ist das wahr?
Daniel Francis Galouye spielt mit seinem Roman auf das Höhlengleichnis von Platon an, des Lehrers von Aristoteles, der eingangs erwähnt wurde: Menschen sitzen in einer Höhle, sie können ihre Köpfe nicht bewegen, hinter ihnen brennt ein Feuer, zwischen ihnen und dem Feuer bewegen sich Figuren, die Figuren werfen Schatten an die Wand vor den Menschen, und die Menschen halten die Schatten für die Realität. Die Wahrheit liegt hinter ihnen, außerhalb der Höhle, in der Sonne. Um sie zu sehen und zu erkennen, müssten die Menschen nicht nur die Höhle, sondern auch ihre lieb gewonnene und bequeme Unwahrheit verlassen. Das schmerzt. Das schmerzt in den Augen und in der Seele.
Heute ist die künstliche Intelligenz zwar noch nicht genügend gerüstet, um ein Simulacron wie das von Daniel Francis Galouye zu erschaffen, aber wir nähern uns dem an. Wenn es wahr ist, dass, was wir Natur nennen, in unserem Kopf entsteht und sonst nirgends, dann sind die Bilder der KI nicht nur ähnlich der Natur, sondern identisch mit ihr und somit nach Aristoteles allerhöchste Kunst. „Simulacron-3“ wurde 1973 – fast fünfundzwanzig Jahre vor „Matrix“ – von Rainer Werner Fassbinder in zwei Teilen fürs Fernsehen verfilmt, unter dem Titel „Welt am Draht“.
Der Rahmen und das Bild
Mein Freund Hubert Dragaschnig, Pate unseres Sohnes, Regisseur, Schauspieler und Direktor des Theater Kosmos in Bregenz, bewarb sich einst, da war er wenig über zwanzig, um Aufnahme bei der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, und zwar in der Klasse von Professor Oswald Oberhuber. Bei der Aufnahmeprüfung sollten er und die anderen Kandidaten ein möglichst realistisches Selbstporträt abliefern. Wie sie das anstellen, war ganz ihnen überlassen. Hubert konnte nicht zeichnen, und er sah, wie gut es die anderen konnten, und verzweifelte. Da bemerkte er, dass an der Wand ein leerer Bilderrahmen lehnte, 30 Zentimeter breit, 50 Zentimeterhoch. Den nahm er, stellte sich vor die Klasse und hielt ihn sich vors Gesicht. Realistischer geht es nicht. Professor Oberhuber hat ihn auf der Stelle als seinen Schüler genommen. Die anderen Kandidaten waren fassungslos. Das sei ja nur er selbst! Ja. Das einzig Artifizielle war der Rahmen. Der Rahmen tat, als ob Kunst wäre, was er umfasst. Und weil die kürzeste Definition von Kunst „als ob“ lautet, war es Kunst.
Hans Werner Henzes unbekannte Neuerfindung der Oper
„Das verratene Meer" wurde noch nicht oft inszeniert. Die Wiener Staatsoper wagt sich an den schweren Stoff heran. Die Regisseure Sergio Morabito und Jossi Wieler berichten über Verstörungspotenzial und innovative Klänge. Weiterlesen...