„Opfer“ als Schimpfwort – sogar zu einem Wikipedia-Eintrag hat es diese Wendung gebracht: „Du Opfer!“ Jemanden so zu nennen ist die unverhohlene Inkenntnissetzung einer sich frech behauptenden Macht. Noch bevor es zur Auseinandersetzung, zum Kampf, kommt, wird bekannt gegeben, wer was am Ende sein wird – nämlich du das Opfer. Das heißt, der Kampf ist lediglich eine lustige Begleiterscheinung, jedenfalls für die eine Seite; er entscheidet über gar nichts, ganz gleich, wie er ausgeht, die Rollen­verteilung stand längst vorher fest: „Das Opfer bist du.“

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Das Gute und das Böse

Diese Anrede würde in Homers Ilias passen. Wer einen anderen attackierte, brauchte sich nicht zu rechtfertigen; er musste vor niemandem beteuern, dass er das Böse in Wahrheit im Interesse eines höheren Guten tut. Weder Christentum noch Aufklärung waren erfunden. Das Böse war von seinem Gegenstück, dem Guten, noch nicht scharf geschieden. Es gab keinen Gott, der moralische Richtlinien vorgegeben hätte. Der zur gleichen Zeit sich gebärdende und fordernde JHWE gebärdete sich und forderte weit weg.

Die Tontafeln vom Berg Sinai waren eine ethische Weltsensation ungeheuren Ausmaßes, aber ihre Gebote und Verbote hallten noch nicht in die weite Welt hinaus. Wer jemanden als „Opfer“ beschimpft, katapultiert sich zurück in diese ferne archaische Welt. Dort gab es keine Täter-Opfer-Umkehr, dort würde sich ein Held niemals selbst als Opfer bezeichnen. Außer Odysseus. Bevor er dem Kyklopen Polyphem das einzige Auge aussticht, nennt er ihm seinen Namen: Outis werde er genannt. 

Selbstvernichtung im wörtlichen Sinn

In diesem kleinen Wörtchen kulminiert die ganze Hinterlist dieses Helden – und auch die Wortkunstfertigkeit des Homer. Wird nämlich der Konsonant in der Mitte weich ausgesprochen, sodass Outis als „Oudis“ verstanden werden kann, dann ist dies der Kosename des Odysseus, den ihm seine Mutter Antikleia gegeben hat. Bei hartem Konsonanten – Outis – heißt das Wort, in unsere Sprache übersetzt, „niemand“. Es ist eine Selbstvernichtung im wörtlichen Sinn. Sich selbst als „niemand“ zu bezeichnen bedeutet, sich zu einem universellen Opfer zu erklären. Odysseus tut es, um vor dem Riesen noch kleiner zu erscheinen, zu unbedeutend, um sich über so einen zu ärgern.

Gleichzeitig ist es eine List, die den Feind bis auf die Knochen blamieren wird, und die Blamage, das wissen wir, ist auch eine Art der Vernichtung: Als Polyphem vor Schmerz schreit, weil ihm das Auge mit einem glühenden Stab ausgestochen wurde, kommen seine Brüder gelaufen und fragen, was denn los sei. Er antwortet: Niemand hat mich geblendet. Die Brüder lachen ihn aus und halten ihn für verrückt. Polyphem ist das Opfer, das erbärmlichste Opfer im ganzen Epos, in dem es – die Götter wissen es – nur allzu viele Opfer gibt.

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Das Opfer als Herrscher

Max Frisch fragt, ob die Moral die Ohnmacht heiligt. Es ist dies eine der klügsten, eine der überraschendsten Fragen, die ich je gehört habe. Die Antwort des Christen darauf ist eindeutig: Ja. Der Kreuzestod Christi hat die Ohnmacht geheiligt – und hat sie mächtiger als die Macht auferstehen lassen. Von nun an ist das Opfer der Herrscher. Der Kreuzestod eines Gottes macht das Opfer zum Herrscher – und zum Täter. 

Die Ikone des Opfers, der ans Kreuz geschlagene Gott, der gefolterte Mensch, der gedemütigte Gott-Mensch, wurde den schrecklichsten Kriegszügen vorangetragen. Die Kreuzzüge waren die Siegeszüge des Geopferten, des Ge­demütigten – des Opfers. Hier begann eine gigantische zweitausend Jahre dauernde Täter-Opfer-Umkehr: die Apotheose des Opfers. Nun waren es die Christen als Nachfahrer und Voll­strecker des Willens des göttlichen Opfers, die mordeten, brandschatzten, vergewaltigten, missbrauchten, ausrotteten, betrogen, die Schlachtfelder mit Blut überschwemmten, hunderte Kinder in Umerziehungs­heimen zu Tode brachten – sie, die Christen, sind das ewige heilige Opfer, sie tun Böses unter der Flagge des Opferlamms, also tun sie Gutes. Wer dem widerspricht, ist der Antichrist. Der Teufel. Der Vater der Lüge. Wer ist der Täter? Und wer ist das Opfer? Wer spricht von Wahrheit, wenn er lügt? Wer spricht von Lüge, wenn die Wahrheit ausgesprochen wird? Geben wir acht!

Die Lüge ist der Tod der Seele

In letzter Zeit, der mythenlosen Zeit, der restlos entzauberten, der restlos von jeglicher Transzendenz entblößten, der restlos von jeglichem aufklärerischen Pathos befreiten Zeit, so meine ich, beobachten zu können, wurde die Täter-Opfer-Umkehr zur beliebtesten Waffe in der täglichen politischen Auseinandersetzung – die nun auch keine „Auseinandersetzung“ mehr ist, kein Austausch und Abwägen der Argumente, keine Kritik und Gegenkritik, sondern ein Krieg, vorerst ein Krieg der Worte, aber ein Krieg, in dem sich nicht Menschen mit verschiedenen Meinungen, Urteilen, Glaubensbekenntnissen und verschiedenen Erfahrungen gegenüberstehen, sondern Sieger und Besiegte, Täter und Opfer – Letztere aber nicht in einem naiven wörtlichen Sinn, sondern in einem hinterlistigen, hinterfotzigen paradoxen Sinn, in einem verdrehten Sinn wie aus dem Neusprech, den uns George Orwell in seinem Roman 1984 vorführt, wo ein Wort das Gegenteil von dem bedeutet, was uns der gesunde Menschenverstand eingibt.

Augustinus sagt, die Lüge ist der Tod der Seele, denn sie muss, um erfolgreich zu sein, das Vertrauen in die Wahrheit menschlicher Rede voraussetzen, das sie zugleich zerstört. Immanuel Kant geht noch weiter, einen großen Schritt weiter, einen zu großen Schritt, wie ich meine. In seinem Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ beharrt er darauf, dass auch dann die Wahrheit gesagt werden müsse, wenn dadurch das Leben eines Freundes in Gefahr gerät. Ein solches Gebot lehnen wir selbstverständlich ab; aber wir sehen, welchen Stellenwert die Wahrheit für den größten Moralphilosophen der Neuzeit hatte. 

Geben wir acht! Wer ist der Täter? Wer ist das Opfer? Und wer spricht von Wahrheit, wenn er lügt? Wer spricht von Lüge, wenn ihm die Wahrheit widerspricht?

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 70 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: Matou, Hanser Verlag, 2021

Weiterlesen: Die Kolumnen von Michael Köhlmeier

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