Die nächste Saison wird komplementär. Intendant Stefan Herheim hält Besonnenheit für eine Kraftquelle und hat sich in der Planung seiner zweiten Spielzeit im Theater an der Wien und in der Kammeroper für Stücke entschieden, „die paarweise in einem dialektischen Spannungsfeld stehen“, sich möglicherweise „ästhetisch konträr gegenüberstehen, in ethischen Fragen aber ergänzen“.

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Die Reihe Familienoper wird mit „Wo die wilden Kerle wohnen“ und „Hamed und Sherifa“ fortgesetzt, es gilt Arnold Schönbergs 150. Geburtstag zu feiern – und junge, scharfsinnige Regisseur*innen vor den Vorhang zu holen.

Sie haben Ihre Debüt-Spielzeit erfolgreich hinter sich gebracht. Wie lautet Ihr Resümee nach diesem ersten Jahr?

Mission erfüllt. In Anbetracht der Herausforderungen durch die Generalsanierung des Theaters an der Wien und den Umzug in die Ausweichspielstätte im MuseumsQuartier bei anhaltender Pandemie und Inflation dürfen wir mit dieser ersten Saison überaus zufrieden sein. Die Neugierde und der Zuspruch des sich stets verjüngenden Publikums waren überwältigend. Dank des unermüdlichen Einsatzes und Zusammenhalts unserer Mitarbeiter*innen konnten neue künstlerische Maßstäbe trotz erschwerter Arbeitsbedingungen gesetzt werden. So sind die Kammeroper und die Halle E lebendige Orte des Musiktheaters und der Begegnung geworden.

Nun steht die zweite Saison an. Nach welchen Kriterien und Richtmarken haben Sie diese konzipiert?

Wir erleben eine Zeit, in der Besonnenheit eine Kraftquelle ist. Mit neu und wiederzuentdeckenden Werken des Barock, der Wiener Klassik, der Romantik, der Moderne und der Gegenwart setzen wir unsere saisonübergreifenden Programmreihen fort und fokussieren thematisch auf die Ideale der Aufklärung. Ihr Streben nach dem Schönen, Wahren, Guten im Spiegel des Musiktheaters hinterfragend, präsentieren wir am Anfang der Saison gleich zwei Werke, die das Martyrium der frühchristlichen Gemeinde behandeln. Gaetano Donizettis „Les Martyrs“ und Georg Friedrich Händels „Theodora“ führen uns drastisch vor Augen, dass die Werte einer offenen Gesellschaft nicht selbstverständlich, sondern teuer erstritten worden sind. Von Voltaire, dessen Roman „Candide“ Mitte des 18. Jahrhunderts jedwede Ideologie und Maxime zur Erklärung der Welt der Lächerlichkeit preisgab, ließ sich Leonard Bernstein 200 Jahre später zu einer Operette inspirieren, die aktueller denn je erscheint angesichts der derzeitigen weltweiten Kriegsschauplätze und Verhärtungen der Fronten auch jenseits der Schlachtfelder. Das betrifft auch die 1787 für Kaiser Joseph II. komponierte Oper „Kublai Khan“ von Antonio Salieri, wohinter sich eine Satire auf den russischen Zaren verbirgt. Aufgrund eines überraschenden Kriegsbündnisses mit demselben gelangte sie nie zur Uraufführung, weswegen wir diese nun nachholen.

Wo die wilden Kerle wohnen

Mit Werken von Janáček, Berg oder Weinberg haben Sie 2022/23 nicht nur auf mehrheitsfähige Komponisten gesetzt. Welche Schwerpunkte dürfen sich die Zuschauer*innen für 2023/24 erwarten?

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Wir haben uns für Werke entschieden, die paarweise in einem dialektischen Spannungsfeld zueinander stehen. Jaromír Weinbergers „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ und Astor Piazzollas Tango Operita „María de Buenos Aires“ sind zwei volksnahe Stücke aus völlig unterschiedlichen Kultursphären des 20. Jahrhunderts, die beide die Abgründe unerfüllter Sehnsüchte und enttäuschter Lebensträume ausloten. Zwei unverwüstliche Liebespaare zeigen Charles Gounods lyrisches Drama „Roméo et Juliette“ und Philip Venables’ amplifizierte Oper „Denis & Katya“, die sich ästhetisch konträr gegenüberstehen, in ethischen Fragen aber ergänzen.

Dank unserer Sponsoren können wir die Reihe Familienoper fortführen und Oliver Knussens „Wo die wilden Kerle wohnen“ nach einem der beliebtesten Kinderbücher überhaupt erstmals in Österreich zeigen. Mit Zad Moultakas „Hamed und Sherifa“ gibt es die zweite Oper für „jung & alle“ in der Kammeroper – zwei spannende Geschichten, die Lebensfreude in zukunftsfähiges Musiktheater verwandeln. Und natürlich wollen wir den 150. Geburtstag des Universalkünstlers Arnold Schönberg feiern, der als Begründer der Zweiten Wiener Schule den Ruf dieser Stadt als Zentrum der Musik völlig neu definierte und festigte. Mit einem Abend für Schönberg laden Regisseur Johannes Erath und Dirigent Michael Boder in die einmaligen Räume des Reaktors im siebzehnten Bezirk zu einem unvergesslichen Freitag, dem Dreizehnten, ein.

Die aktuelle Saison wurde von jungen Regisseuren wie Tobias Kratzer, Nikolaus Habjan und David Marton geprägt. Wen konnten Sie für 2023/24 verpflichten?

Tobias Kratzer und Nikolaus Habjan kommen beide wieder, der polnische Regisseur Cezary Tomaszewski bestreitet den Saisonauftakt mit „Les Martyrs“, und Martin G. Berger wird Antonio Salieri unter die Lupe nehmen – vier scharfsinnige Herren, die derzeit zu den originellsten Interpreten der Musiktheaterszene gehören.

Gefühl und Vernunft vereinen

Und wie sieht es mit Regisseurinnen aus?

Nach ihrem eindringlichen „Belshazzar“ kehrt Marie-Eve Signeyrole mit „Roméo et Juliette“ zurück, und für ihr Wiener Debüt bringt die Amerikanerin Lydia Steier „Candide“ ans Ende der Vernunft. Beide zählen zu den erfolgreichsten Regisseurinnen ihrer Generation. Von Kateryna Sokolova, die bis vor kurzem meine Regieassistentin war, und von Anika Rutkofsky, Gewinnerin des Grazer Ring Award ’21/22, verspreche ich mir ebenfalls Großes. Während Sokolova ein Projekt über Shakespeares „Richard III.“ mit Musik von Henry Purcell entwickelt, traut sich Rutkofsky an Mozarts „La finta giardiniera“ heran.

Als inszenierender Intendant ist meine ‚Berufung‘ von der Hoffnung getragen, Gefühl und Vernunft vereint zur Geltung kommen lassen zu können, wo sonst berechnender Stumpfsinn waltet und Leere hinterlässt.

Stefan Herheim

Die Halle E wurde als „Theaterersatz“ sehr gut angenommen. Wird damit Ende 2024 mit der Wiedereröffnung des Theaters an der Wien Schluss sein, oder  wird es längerfristig auch im MQ Produktionen geben?

Wir wussten natürlich, dass wir auch in der Halle E hochwertiges Musiktheater spielen können, denn sonst hätten wir uns nicht für zwei Jahre hier eingemietet. So sehr wir uns über die Zeit im MuseumsQuartier und über die positiven Reaktionen auf das hier Erwirkte freuen, so sehr freuen wir uns auch auf die Rückkehr ins eigene, im neuen Glanz erstrahlende Theater an der Wien.

Sind Sie mit dem Fortgang der Renovierungsarbeiten dort zufrieden?

Es geht gut voran, und wir sind aktuell im Zeitplan. Wenn sich daran nichts ändert, steht der Wiedereröffnung im Herbst 2024 nichts im Weg.

Wenn man so lange wie Sie in diesem Beruf arbeitet und so viel kennengelernt hat: Worin liegt der Reiz der Oper heute für Sie?

Als inszenierender Intendant ist meine „Berufung“ von der Hoffnung getragen, Gefühl und Vernunft vereint zur Geltung kommen lassen zu können, wo sonst berechnender Stumpfsinn waltet und Leere hinterlässt. Ein großer Reiz der Oper liegt heute für mich darin, dass wir im Spiel auf den Brettern, die die Welt bedeuten, dem Leben diese Willkür ein Stück weit entreißen können.

Zum Spielplan des MusikTheaters an der Wien und der Kammeroper