Nackter als nackt
In ihrem Roman „Die Scham“ rekonstruiert Annie Ernaux ihre eigene Geschichte, indem sie ein verdrängtes Ereignis Schicht für Schicht freilegt. In der Dunkelkammer des Volkstheaters begibt sich Friederike Tiefenbacher auf die Suche zum Kern der von ihr geschilderten Scham.
„An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen“, lautet jener Satz, mit dem die frischgebackene Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux ihren etwa 100-seitigen Roman „Die Scham“ beginnt. Sie fällt mit der Tür ins Haus ihrer Kindheit – so könnte man diesen Einstieg, wenn auch etwas floskelhaft, beschreiben. Dieser mit Scham und Verdrängung behaftete Vorfall, der sich an einem Junisonntag im Jahr 1952 ereignete, lässt sie, so bezeichnete es Ernaux immer wieder selbst, zur „Ethnologin ihrer selbst“ werden. Schicht für Schicht legt sie in ihrem Roman den Kern ihrer Scham frei.
Gleich von Anfang an „nackter als nackt“ ist hingegen Schauspielerin Friederike Tiefenbacher, die den in klarer Sprache verfassten Text in der Dunkelkammer des Volkstheaters verkörpert. Wortwörtlich ist das natürlich nicht zu verstehen. In der im obersten Stock des Theaters beheimateten Spielstätte gibt es allerdings keinerlei Distanz zum Publikum und auch kaum Möglichkeiten, sich hinter einem Bühnenbild zu verstecken. „Es ist durchaus eine Herausforderung“, sagt sie lachend. „Das gilt im Übrigen auch für das Lernen dieses nicht einfach zu lernenden Texts“, fügt sie hinzu. Schon im Sommer hat sie damit begonnen, am einfachsten sei es in der Früh, „wenn der Kopf noch ganz frei ist“.
Flüchtige Bilder
Ed. Hauswirth, Gründungsmitglied und künstlerischer Leiter des Grazer Theaters im Bahnhof, führt bei „Die Scham“ Regie. Friederike Tiefenbacher kennt den Theatermacher schon aus ihrer Zeit in Dortmund. „Er besitzt ein großes Instrumentarium an unterschiedlichen Herangehensweisen, was für unser Vorhaben sehr hilfreich ist“, erklärt sie.
Eine zentrale Rolle spielt aber auch die Fotografin Franzi Kreis, die aus dem gleichnamigen Spielort tatsächlich eine Dunkelkammer macht. „Mithilfe einer speziellen Fototechnik entstehen flüchtige Bilder und Erinnerungsfetzen, die den Erzählvorgang auf sehr einprägsame Weise widerspiegeln. Gemeinsam begeben wir uns auf die Spur dieser Fragmente, die am Ende vielleicht ein Bild ergeben“, sagt Friederike Tiefenbacher, die wir im Gastgarten des Café Liebling im Volkstheater treffen. Es ist sonnig und die Hoffnung auf einen goldenen Herbst und damit auch auf ein goldenes Zeitalter der Übergangsjacken nach sehr viel Regen plötzlich wieder da.
Man geht zwar in die Öffentlichkeit, aber es ist nicht so, dass wir alle Exhibitionist*innen sind.
Friederike Tiefenbacher
Ein Vortrag des bekannten Sozialwissenschaftlers Stephan Marks half der Schauspielerin dabei, sich intensiv mit dem Thema Scham zu beschäftigen. Ein Satz blieb ihr dabei besonders im Gedächtnis: „Er sagt, dass sich tief empfundene Scham wie Ertrinken anfühlt. Darüber habe ich sehr lange nachgedacht.“
Auch die Schauspielerei hat ja viel mit Scham zu tun, fügt sie hinzu. „Man geht zwar in die Öffentlichkeit, aber es ist nicht so, dass wir alle Exhibitionist*innen sind. Ich sehe den Beruf des Schauspielers eher wie ein Medium zwischen Himmel und Welt, zwischen Bühne und Publikum.“
Zur Person: Friederike Tiefenbacher
Die gebürtige Heidelbergerin studierte Schauspiel an der Hochschule der Künste Berlin. Ihr erstes Engagement führte sie ans Schillertheater Wuppertal. Von 2004 bis 2010 war sie Ensemblemitglied am Staatsschauspiel Dresden, danach zehn Jahre in Dortmund. Seit der Spielzeit 2020/21 ist sie fest am Volkstheater engagiert und dort unter anderem in „Faust“ und „Der Würgeengel“ zu sehen.